Begegnungen

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„Firiel!" Wie durch einen Nebel drang Saelas Stimme zu ihr durch. „Firiel! Hörst du mich?"

Firiel hörte ihre Freundin. Doch sie reagierte nicht. Sie saßen im Hof der Zitadelle in den wärmenden Strahlen der Frühlingssonne. Firiels Hände lagen schlaff auf ihrem Schoß und hielten nur noch lose ihr Handarbeitszeug. Bald würde es ihr entgleiten. Ein Reiter kam über den Hof, saß ab und verschwand eilig in der Burg. Der Blick der Königin war ziellos in die Gegend gerichtet. Ihr Gesicht war vollkommen reglos. Firiel schien weit weg zu sein.

Ganz langsam drehte Firiel den Kopf und sah Saela an. Jede Bewegung bereitete ihr Mühe. Sie war so unvorstellbar müde. Am liebsten wäre sie in einen tiefen Schlaf gesunken und nie wieder aufgewacht. Alles war so anstrengend. Eigentlich hatte sie heute auch gar nicht aus ihrem Gemach gehen wollen, Saela hatte sie aber überredet.

„Was ist?", fragte sie matt. Saela seufzte leise. Sie hob ein paar Bögen Papier hoch. „Ich fragte, ob ich dir Aranarths Brief vorlesen soll. Er hat dir doch geschrieben." Aranarth... Ihr Sohn hatte ihr geschrieben. Ein wenig verwirrt runzelte Firiel die Stirn. Der junge Mann erschien ihr in ihrer Trauer noch viel weiter weg als er es ohnehin schon war. Schließlich nickte sie und Saela begann zu lesen.

„Liebe Mutter, es tut mir leid, dass ich erst jetzt dazu komme, dir zu schreiben. In den letzten Wochen haben uns mehrere Bewegungen des Feindes beschäftigt gehalten. Es wird Vater erfreuen, zu hören, dass die Orks keine neuen Gebiete erobert haben. Doch ich will dich nicht mit den Aktivitäten unseres Heeres langweilen. Es gibt viel drängenderes, was ich schreiben will. Ein Bote brachte mir die Nachricht von dem furchtbaren Schicksalsschlag, der unsere Familie ereilte. Ich bin in großer Trauer um meine mir unbekannte Schwester gewesen. Wie fühlst du dich?..."

Die Stimme Saelas verschwand in einem Nebel. Firiel hörte nicht mehr zu. Ihre Gedanken eilten hinter die Zitadelle, in den kleinen Garten, wo nun schon seit einigen Wochen Sirinas Grab gepflegt wurde. Dort wurden die Beete mittlerweile mit Blumen und Kräutern bestückt. Man hatte an den Seiten des Grabes eine rankende, blütentragende Pflanze gepflanzt. In einigen Jahren würde sie eine lebende Grotte bilden. Wenn Firiel nicht in ihrem Gemach war oder von Saela zu irgendeiner Beschäftigung gelockt wurde, verbrachte sie meist Stunden in diesem Garten. Vielleicht sollte sie einfach aufstehen und dort hin gehen?

„Firiel!" Saela klang leicht verärgert. Die Königin sah ihre Freundin an. „Warum hörst du nicht zu?", wollte diese wissen. Firiel senkte den Blick. „Ich glaube, ich werde wieder in den Garten gehen." Sie erhob sich. „Tut mir leid, Saela...", murmelte sie. Sie wollte sich abwenden, doch Saela stand auf. Sie packte Firiels Hand.

„Du wirst nicht schon wieder Stunden in diesem Garten auf dem Boden sitzen, nichts essen, nichts trinken und mit dem Grab deiner Tochter reden!", sagte sie scharf. Firiel zuckte ein wenig zusammen. Sie versuchte ihre Hand dem Griff Saelas zu entziehen. Aber diese hielt sie unbarmherzig fest. Da stieg leichte Wut in Firiel auf. „Warum hälst du mich fest?", fragte sie mit leiser Stimme, „Ich bin deine Königin! Ich habe jedes Recht der Welt, um meine Tochter zu trauern!"

Saela ließ ihre Hand los. Aber sie sah ihr trotzdem unbeugsam ins Gesicht. „Du trauerst nicht, Firiel. Nie hast du um Sirina geweint. Du hast nicht Abschied genommen. Noch immer vergräbst du dich in deinen Tagträumen, bis man dich fast zum Essen zwingen muss! Es ist nun fast drei Monate her! Du musst zurück kommen, sonst vergehst du daran und stirbst!"

Firiel hob trotzig den Kopf. „Du weißt nicht, wie es mir geht.", erwiderte sie. Saela zog die Augenbrauen zusammen. Jetzt sah sie wütend aus. „Auch ich habe ein Kind verloren. Vergiss das nicht.", sagte sie mit kühler Stimme. „Ich habe um sie getrauert, ich habe geweint, meine Kleider zerrissen, tagelang nichts gegessen. Aber ich habe sie losgelassen! Ich lebe! Was machst du? Du verbringst deine Tage im Schatten!"

Die letzte KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt