Mein Platz ist hier...

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Firiel ließ einen letzten Blick über die Sachen schweifen, die sie auf ihrem Bett ausgebreitet hatte. Viel war es nicht. Lediglich ein dunkler Mantel, ein Schal gegen die nächtliche Kälte, etwas Geld und die Decke, in die sie ihre Tochter nach ihrer Geburt eingewickelt hatte, außerdem noch eine Haarlocke Aranarths, die sie besaß, seit er ein Kind gewesen war. Diese Dinge würde sie mitnehmen, wenn sie heute Abend mit Ildion fliehen würde. Kurz verharrte sie, dann packte sie alles bis auf den Mantel in einen kleinen Reisesack und versteckte ihn unter dem Bett. Ihr Blick fiel dabei auf ihren Siegelring. Ihn würde sie zurück lassen müssen. Das Wappen der Könige von Arthedain war zu auffällig.

Niemand außer ihr und Ildion wusste von ihrem Plan. Noch nicht einmal Saela und Orla hatte sie eingeweiht, auch wenn es ihr schwer gefallen war. Eine untergründige Anspannung hatte sich heute ihrer bemächtigt und sie rastlos umher laufen lassen. Es war mittlerweile Mittag und es würden nur noch wenige Stunden vergehen, bis sie in ihren Mantel gehüllt sich bei Dunkelheit aus der Zitadelle schleichen würde. In der Nähe des Tores wollte Ildion mit zwei Pferden auf sie warten. Firiel wagte es nicht, Silber mitzunehmen. Ihre Stute war zu alt für eine weite Reise. Und sie wusste nicht, wie weit sie würden fliehen müssen. Es könnte Wochen dauern, bis sie eine Bleibe gefunden hatten. Ildion hatte ihr erklärt, dass sie auf geradem Weg nach Süden reiten würden. Südlich von Arthedain gab es einige menschliche Niederlassungen, wo er hoffte, mit ihr eine Zuflucht zu finden.

Von Unruhe gepackt begann Firiel, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sie verschlang ihre Finger ineinander. Ihre Blick flogen durch den Raum, während sie versuchte, das Gefühlschaos in ihrem Herzen zu ordnen. Die anfängliche Freude darüber, mit Ildion nun endlich einen Ausweg gefunden zu haben, war bereits sehr schnell verflogen. Anfangs hatte sie es auf ihre Angst vor der Flucht geschoben. Nun war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Ihr wurde klar, dass sie hier doch einiges zurück ließ, was ihr etwas bedeutete. Sie würde ihre Freundinnen vermissen. Diese Stadt und ihre Menschen waren ihr eine Heimat geworden. Und ihr Sohn... Der Gedanke, ihren Sohn zu verlassen und nie mehr wieder zu sehen, schnitt ihr in Herz.

Sie trat ans Fenster und sah nach draußen. Dort stand er, ihr geliebter Sohn. Ihr Blick blieb an ihm hängen, wie er da im Hof stand und scheinbar mit einigen Soldaten diskutierte. Selbst auf die Entfernung konnte sie Details in seinen Zügen ausmachen. Die hohe Stirn und scharfen Wangenknochen, die blauen Augen, voller Intelligenz und Wachsamkeit trotz seiner jungen Jahre und die lange Nase seines Vaters. Hoch aufgerichtet und stolz stand er da. Seine langen Haare trug er wie üblich zu einem Zopf geflochten.

Liebevoll und auch voller Schmerz betrachtete sie ihn. Jede Kleinigkeit wollte sie in sich aufsaugen und für den Rest ihres Lebens bewahren, denn sie ging nicht davon aus, dass sie ihn wieder sehen würde. Sie senkte den Kopf. Bald würde er sein Mündigkeitsfest feiern, er würde ein Mann sein. Irgendwann würde er heiraten und seinem Vater auf den Thron folgen. Das alles würde sie nicht erleben. Nie würde sie voller Stolz auf ihn blicken, wenn er das Erbe seines Vaters antrat. Der Gedanke zerriß ihr das Herz. Sie fühlte sich, als würde sie ihren Sohn verraten, indem sie fort ging.

Die Tür öffnete sich hinter ihr. Firiel fuhr herum und sah Orla den Raum betreten. Erneut zog sich ihr Herz zusammen. Auch Orla und Saela würde sie nie wieder sehen. Niemals mehr würde sie ihnen von ihren Sorgen erzählen können oder mit ihnen lachen. Und mit ihnen würde sie auch nie mehr diese Stadt sehen oder die Menschen, deren Königin sie war.

„Meine Herrin, was habt ihr?", fragte Orla besorgt, die sofort Firiels Gesichtsausdruck bemerkt hatte. Doch diese schüttelte nur den Kopf und so machte ihre Dienerin sich daran, das Zimmer aufzuräumen. Traurig beobachtete Firiel sie dabei. Langsam wuchs in ihr eine Gewissheit heran. Eigentlich hatte sie es die ganzen letzten Tage schon gewusst, aber nicht wahr haben wollen. Sie würde Fornost nicht verlassen. Das konnte sie nicht. All die Menschen, die sie liebte, ihr Volk, sie konnte sie nicht alleine lassen. Sie setzte sich auf einen Stuhl und schloss die Augen, während sie tief durchatmete. Nein, dies war ihre Heimat. So sehr sie Ildion auch liebte, sie konnte dies hier nicht für ihn opfern.

Die letzte KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt