Das Tal des Lhun

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Frühjahr 1975 D.Z.

Der Zug der Flüchtlinge erstreckte sich über die Hochebene. Weit hinter ihnen erhoben sich die Gipfel der nördlichen Höhen. Der Himmel über ihnen war von Wolken bedeckt und ließ das Sonnenlicht nur schwächlich hindurch. Zwielichtiges Licht erhellte die Ebene. Es war deutlich wärmer als auf den Höhen der Berge. Zwar lag auch hier noch Schnee, doch immer häufiger vermischte sich der Schnee mit dem aufgeweichten Boden zu bräunlichem Schlamm. Die Karren der Flüchtenden kamen nur mit Mühe voran.

Firiel lief wie immer ganz vorne an der Spitze des Zuges. An ihrer Seite liefen Saela und Orla, die ihre Kinder bei sich hatten. Schlamm und Schnee weichten ihre Schuhe und Kleider auf, während sie weiter und weiter gingen. Vor ihnen hatte Firiel einen Wald erspäht, dort würden sie die Nacht über bleiben können.

„Geht schonmal weiter...", sagte sie zu Saela und Orla. Die beiden nickten nur und liefen weiter. Firiel blieb stehen und sah ihnen nach. Dankbarkeit und tiefe Zuneigung durchfluteten sie. Ihre beiden Freundinnen waren ihr in den letzten Wochen eine unverzichtbare Stütze geworden. Sie bezweifelte, dass sie ohne die beiden Frauen es geschafft hätte, das Volk über die Berge zu führen. Sicher wäre sie irgendwann unter der Last zusammen gebrochen.

Nach und nach passierten die Menschen von Arthedain sie. Die meisten hoben den Kopf und sahen sie an. Stumm grüßten sie ihre Königin oder murmelten ihren Namen. Mit tiefer Sorge im Herzen betrachtete Firiel die Menschen. Noch immer hielten sie sich tapfer. Kaum Klagen waren im Volk zu hören. Sie folgten Firiel, wohin sie sie auch führte und waren überzeugt, dass sie irgendwann in Sicherheit sein würden.

Doch die letzten Tage hatten viele Opfer gefordert. In den Bergen, die sie endlich vor einigen Tagen verlassen hatten, waren Dutzende der Kälte erlegen. Und hier auf der Ebene gingen ihnen langsam die Vorräte zur Neige. Sämtliche Tiere, bis auf Firiels Pferd, waren bereits geschlachtet worden. Vor allem Kinder und Alte litten unter den Entbehrungen des Marsches. Fast jeden Tag starben welche an Hunger und Erschöpfung. Firiels Herz wurde vor Kummer schier zerrissen, während ihre Gedanken andauernd darum kreisten, wie viele Opfer ihre Reise wohl noch fordern würde. Jeden Abend waren irgendwo im Lager die Klagen derjenigen zu hören, die einen geliebten Menschen verloren hatten.

Firiel erblickte Finnjor unter seinen Heilern. Die Heiler liefen mitten unter den Menschen und zogen selbst gebaute Schlitten mit den Kranken darauf, die zu schwach waren, um zu laufen. Einer von ihnen führte Firiels schwarzen Hengst, Mellon, am Zügel. Mit einigen Schritten mischte sich Firiel unter die Heiler. Sanft nahm sie dem Mann Mellons Zügel aus der Hand, um ihr Pferd selbst zu führen. Mellon schnoberte sanft an ihrer Schulter, um sie zu begrüßen.

„Herr Finnjor,", wandte sich Firiel an den Heiler, „wie geht es euren Patienten?" Finnjor seufzte. „Einige befinden sich wieder auf dem Weg der Besserung, um andere mache ich mir große Sorgen.", erwiderte er leise. Firiel nickte stumm. Es lag auf der Hand, dass sie so schnell wie möglich die Elben finden mussten.

Vor ihnen stolperte ein kleiner Junge, der an der Hand seiner Mutter ging. Die Frau, die bereits ein Säugling auf dem Arm trug, zog ihn wieder auf die Beine. „Ich kann nicht mehr, Mama!", jammerte der Kleine. Tränen liefen über sein schmutziges Gesicht. „Du musst aber.", erwiderte diese sanft, „Komm, wir rasten bestimmt bald."

„Verzeiht...", Firiel schob sich nach vorne. Die Mutter drehte sich zu ihr um und knickste hektisch, als sie Firiel erkannte. „Herrin!", rief sie überrascht aus. Firiel beugte sich zu dem Jungen hinunter. „Du bist müde, nicht wahr?", fragte sie ihn leise. Der Kleine nickte, zu verängstigt, um zu sprechen. „Willst du auf meinem Pferd ein wenig reiten?", fragte Firiel weiter. Mit großen Augen sah das Kind zu dem schwarzen Hengst auf, der hinter Firiel stand. Dann wandte er sich unsicher zu seiner Mutter um, die erstaunt zur Königin sah. „Wenn ihr es erlaubt, Herrin.", flüsterte sie eingeschüchtert.

Die letzte KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt