Auf der Flucht

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Der Zug der Menschen, die aus Fornost geflohen waren, und der nun von Firiel in Richtung Westen geführt wurde, zog sich über die Hänge der nördlichen Höhen entlang. Stoisch setzten die Männer, Frauen und Kinder einen Fuß vor den anderen. Mit gesenktem Kopf, ihre restlichen Habe an sich geklammert, gingen sie immer weiter.

Firiel führte sie. Gemeinsam mit Saela, Orla und deren Töchtern lief sie an der Spitze des Zuges und mühte sich, einen Weg durch den südlichen Teil der Berge zu finden. Finnjor war auch bei ihnen. Da der junge Heiler am besten die Orientierung behalten konnte, half er Firiel dabei, die richtige Richtung beizubehalten.

Für Firiel war es ausgeschlossen, noch einmal eine Passhöhe überqueren zu wollen. Der heftige Schneesturm, der sie am Vortag heimgesucht hatte, war ihr noch in schrecklicher Erinnerung. Und so führte sie ihr Volk in der Nähe der Baumgrenze um die Berge herum. Sie fürchtete, dass sie so manchen Umweg in Kauf nehmen mussten, aber den hohen Gipfeln wollte sie keine weiteren Menschenleben opfern.

Doch vor der beißenden Kälte des Bergwinters und dem Schnee, der auch hier noch fiel, konnte sie niemanden schützen. Nelea würde nicht das einzige Opfer bleiben, das fürchtete Firiel. Und tatsächlich waren bereits am letzten Abend einige unter hohem Fieber und Erschöpfung zusammengebrochen. Sie wurden nun auf den Karren gefahren, doch Firiel machte sich wenig Hoffnung. Voll Bitterkeit fürchtete sie, dass nur wenige ihres Volkes Mithlond lebend erreichen würden.

Sie stapfte weiter und weiter. Der Schnee behinderte ihr Vorwärtskommen, doch sie gab nicht auf. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst, wie sie vor vielen Jahren allein durch die Wildnis gezogen war, auf der Suche nach Hilfe, nur mit einem kranken Säugling bei sich. Damals hatte sie es geschafft, zu überleben. Und auch dieses mal würde sie Hilfe finden, zumal sie auch nicht allein war.

Dankbar fiel Firiels Blick auf ihre beiden Freundinnen. Von dem Standesunterschied, der sie einst getrennt hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Saela und Orla waren ihr wie Schwestern geworden und halfen und stützten sie, so gut es ihnen möglich war. Vor allem Orla, die ehemalige Magd, hatte ihr unterwürfiges Verhalten verloren. Zwar behandelte sie Firiel immer noch respektvoll, doch sie war keine Dienerin mehr. Und die Menschen gehorchten den beiden Frauen genauso, wie sie Firiel gehorchten.

Das Gelände stieg mehr und mehr an. Das Tal, an dessen Rand sie sich bewegten, schien zwischen zwei Bergen hindurch zu laufen. Doch dieser Punkt befand sich noch ein gutes Stück über ihnen.

Besorgt blieb Firiel stehen und sah voraus. Wenn sie dem Tal weiter folgten, würden sie sehr weit steigen müssen und sie wusste nicht, was ihnen dahinter bevor stand. Doch die Blicke, die sie zu den Seiten des Tales hin warf, zeigten ihr, dass sie erneut keine andere Chance hatte, als diesen Aufstieg in Kauf zu nehmen. Sie waren von hohen Gipfeln eingeschlossen und zurück gehen konnten sie nicht. Dafür fürchtete sie zu sehr, dass sie verfolgt wurden.

Neben ihr erschien Finnjor. Fragend sah der junge Mann zu ihr. Mit einer knappen Bewegung deutete sie auf das Ende des Tales. „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als dort lang zu gehen. Wir müssen weiter nach Westen und jeder andere Weg würde einen Umweg bedeuten, den wir nicht einschätzen können.", sagte sie zu dem Heiler. Finnjor folgte ihrem Fingerzeig und zog hörbar die Luft ein.

„Meine Königin, ist das klug?", fragte er vorsichtig, „Wir haben Alte, Kinder und Kranke dabei. Der Aufstieg wird beschwerlich werden und wir wissen nicht, was uns dahinter erwartet."

„Aber das werden wir auch bei jedem anderen Weg, den wir einschlagen, nicht wissen.", erwiderte sie ruhig. Es gefiel Firiel genauso wenig wie Finnjor, diesen Weg nehmen zu müssen. Aber hatte sie eine andere Wahl? Und so setzte sie sich langsam wieder in Bewegung, näherte sich Schritt für Schritt immer mehr dem Ende des Tals.

Die letzte KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt