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Er hatte aufgelegt. Verdattert starrte ich auf mein Display und musste erst einmal verarbeiten, was ich gerade vernommen hatte: Till würde morgen Abend zu mir kommen! Morgen...Abend...ich wollte es noch immer nicht so ganz glauben.
Die Musik dröhnte wieder laut aus den Boxen, das Telefon landete am Beifahrersitz, ich juchzte und stieß einen Schrei aus, trommelte vor lauter Freude auf das Lenkrad ein und deutete ein Headbangen an. Die Personen, die just in diesem Moment an meinem Vehikel vorbei schlenderten, warfen mir teils erstaunte, teils beunruhigte Blicke zu und zogen es vor, die Verrückte in dem Wagen schnell zu passieren.
Es war mir egal, sollten die doch alle denken, was sie wollten. Ich würde Till morgen vom Flughafen abholen! Ein Kichern breitete sich in mir aus und ich brauchte noch einige Minuten, bevor ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte.
Schließlich stieg ich gut gelaunt und selig grinsend aus dem Wagen und spazierte in das Café, in dem ich mit Ferdinand seit fünfzehn Minuten verabredet war.

Er empfing mich mit seinem üblichen Spruch (Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da?) und als er mich so grinsen sah, stutzte er einen Augenblick.

„Na, du bist ja heute sehr gut aufgelegt. Gibt es was Neues?", wollte er wissen.

„Dir auch erst mal einen wunderschönen guten Morgen – oder eher Vormittag, Ferdinand!", ich musste wieder lachen, „und ja, es gibt ein paar Neuigkeiten."
Ich nahm ihm gegenüber Platz und bestellte mir ein Omelett mit frisch gepresstem Orangensaft.
Ferdinand hatte bereits gegessen und verlangte noch nach einem zweiten Kaffee.

„Erzähl, meine Liebe, was sind diese ominösen Neuigkeiten? Hast dir endlich einen jungen Mann geschnappt?"
Ferdinand grinste mich an und ich musste wieder an zu kichern.

„Also das mit dem Mann kommt mal hin, das mit dem jung", ich biss mir auf die Zunge, „naja, wie soll ich sagen – eher so deine Altersklasse!", zwinkerte ich ihm schließlich zu.

Gespielt entrüstet blickte Ferdinand mich an.
„Soll das etwa heißen, ich bin nicht mehr jung? Ich bin doch bitte im besten Alter! Also hast du dir einen neuen Sugardaddy angelacht..."

„Ferdinand, du bist und bleibst mein einziger <Sugardaddy>", grinste ich, „aber so ganz taufrisch bist du ja auch nicht mehr."

„Vorsicht, meine Liebe, du weißt schon, wer hier der Jagdleiter ist..."

Ich wusste genau, dass er mir nicht böse war, aber ich spielte sein Spiel gerne mit – das waren wie immer diese Blödeleien, die mir die letzten Wochen, in denen wir uns nicht gesehen hatten, schon abgegangen waren. Unterwürfig sah ich auf den Boden.
„Aber natürlich, Hr. Jagdleiter, verzeih mir."

Und wir beide brachen in Gelächter aus.
Ich brachte ihn auf den neuesten Stand, was sich in den letzten Tagen und Wochen so ereignet hatte, erzählte ihm von Till. Rammstein war ihm zwar ein Begriff, er kannte sogar einige Lieder aber ich konnte mich auf seine Diskretion verlassen.
Dann erörterte er mir die nächsten Arbeiten, die im Revier zu erledigen waren, die Abschusspläne für dieses Jahr und die Gruppenansitze, die in den kommenden Wochen geplant waren.
Wir saßen mittlerweile bei unserem vierten Kaffee beziehungsweise Kakao und Saft (für mich), da brannte sich mir noch eine Frage auf.

„Du Ferdinand, ich bekomme ja morgen Abend Besuch für ein paar Tage. Wäre es möglich, dass ich Till mal mit zum Jagen nehme?"
Lieber nichts riskieren – melden macht bekanntlich frei.

„Sicher. Aber nur mitnehmen, schießen tust du, alles klar?"

„Natürlich."

„Und wenn ihr jagen geht, dann geht ihr auch jagen – und nicht Vögeln am Hochstand."

Ach, wie hatte ich diese Scherze vermisst.
Ich streckte ihm die Zunge raus und Ferdinand grinste mich an, winkte dann der Kellnerin und bezahlte unseren Brunch.
Wir verabschiedeten uns und ich beschloss, noch kurz einen Abstecher ins Revier zu machen, um eine Runde spazieren zu gehen. Trotz der guten Laune und der Aussicht auf morgen Abend musste ich meine Gedanken ordnen und etwas frische Luft schnappen und die Ruhe im Wald würde mir dabei helfen.

Zwanzig Minuten später parkte ich den Wagen an einem Feldweg, hängte mir Rucksack und Gewehr um und machte mich auf den Weg in den Wald. Trotz des schönen Wetters waren heute relativ wenig Leute unterwegs und schon nach kurzer Zeit war ich ganz alleine auf einem schmalen, fast zugewachsenen Waldweg unterwegs. Der Boden war noch feucht, offenbar hatte es in der Nacht ein wenig geregnet. Kurz verharrte ich, schloss die Augen und sog diesen unverkennbaren Duft nach Nadel- und Laubbäumen ein. Amseln zeterten neben und über mir im Geäst, Meisen sangen und flogen durch das Dickicht. Aus einiger Entfernung war der Schrei eines Bussards zu vernehmen. Ich öffnete wieder die Augen und suchte am Himmel nach dem gefiederten Jäger: weit oben zog er seine Kreise und ließ immer wieder seinen markanten Ruf erschallen. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht: wie glücklich konnte ich mich schätzen, hier jagen gehen zu dürfen!

Ich wanderte leise weiter – hie und da kreuzten Mäuse, Salamander und – auf sonnigeren Plätzen – auch Eidechsen meinen Weg. Nach ungefähr einer Stunde war ich im Hochwald am Kamm des Hügels angekommen und setzte mich erst mal auf den Waldboden. Ich zog die kleine Wasserflasche aus dem Rucksack, die ich immer dabei hatte, und nahm einige Schlucke, dann ließ ich sie wieder im Fach verschwinden. Genüsslich lehnte ich mich an eine Kiefer und konnte durch die Bäume einen Blick auf den gegenüberliegenden Schlag werfen. Dieser gehörte bereits zum Nachbarrevier, welches unser Förster betreute. Am anderen Ende des Schlages konnte ich eine Bewegung wahrnehmen, wahrscheinlich ein Reh.
Diese Ruhe, das Gezwitscher der Vögel und das Summen der Wildbienen ließen mich Einnicken.

Der Schrei eines Eichelhähers beförderte mich wieder etwas unsanft in die Realität.
„Dummer Vogel...", murmelte ich und rieb mir die Augen.
Wieder dieses Krächzen, diesmal direkt über mir. Ein anderer Eichelhäher stieg in das Gezeter mit ein.

„Ist ja gut, ich hau schon ab, beruhigt euch!", sprach ich mehr zu mir selbst und wollte gerade nach meinem Gewehr und dem Rucksack greifen, als ich neben mir ein Schnauben und Prusten vernahm.
Ich drehte mich um, den Baum nach wie vor in meinem Rücken, als ich vielleicht zwanzig Meter abseits einen großen, dunklen Fleck wahrnahm: ein Wildschwein!
Normalerweise hätte mich dieser Anblick bei Tageslicht erfreut, doch die Geräusche, die dieses Tier von sich gab, klangen alles andere als freundlich. Abgesehen von der Tatsache, dass es keine Anstalten machte zu fliehen, im Gegenteil: es fixierte mich, schlug mit den Waffen aneinander und hatte Schaum vorm Wurf.

Meine Gedanken rasten: rauf auf den Baum, auf welchen Baum, der ist zu dick, der nächste war zu weit weg, mein Gewehr. Mein Gewehr!
Ohne das Wildschwein aus den Augen zu lassen, bückte ich mich langsam und Griff nach der Bockbüchsflinte. Doch selbst diese bedachte Bewegung schien für das Tier nur eine weitere Bedrohung zu und es stürzte auf mich zu.
In Panik riss ich das Gewehr hoch, Zeit zum Zielen blieb keine, und zog den Abzug durch: Klick!
Die Sicherung!
In Panik rutschten meine Finger immer wieder über die Sicherung, bis ich sie endlich in der richtigen Position hatte und gab einen Schuss in Richtung Wildschwein ab. Der Rückstoß drückte mich gegen den Baum, ich wollte ausweichen doch im nächsten Moment riss mich das Tier von den Beinen und der zweite Schuss löste sich - Erde spritzte vor mir auf. Ich rappelte mich auf, in meinen Ohren klingelte es und ich blickte hektisch um mich. Hatte ich getroffen? Ich lugte hinter dem Baum hervor und sah das Wildschwein in einiger Entfernung am Boden liegen.
Mit zittrigen Händen, lud ich nach, visierte das Schwein an und gab noch einen Schuss darauf ab – keine Reaktion.
Plötzlich gaben meine Füße nach und ich sank auf den Waldboden. Tränen liefen mir über das Gesicht, ich schluchzte und zitterte am ganzen Körper.


DahoamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt