32

345 14 6
                                    

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich wieder die Herrschaft über meinen Körper erlangt, fummelte im Sitzen in meinem Rucksack nach dem Handy und bemerkte erst jetzt, dass mein rechtes Hosenbein total zerrissen war. Schmerzen verspürte ich keine dennoch schob ich die Fetzen auseinander und mir wurde übel. Ich drehte mich zur Seite und erbrach mich. Würgend und hustend saß ich da - der schale Geschmack im Mund machte es nicht besser und wieder stiegen mir Tränen in die Augen.

Reiß dich zusammen – ich muss Ferdinand anrufen!

Ich tastete nach dem Handy und vermied es, einen weiteren Blick auf meinen Unterschenkel zu werfen. Dann fiel mir ein, dass ich die Blutung stillen sollte, bevor ich um Hilfe rief. Ich entledigte mich meiner Jacke und schlang sie so fest wie möglich um mein Bein – besser als nichts!
Dann wählte ich Ferdinands Nummer und bereits nach dem zweiten Klingeln hob er ab.

„Giulia, was gibt's?"

Meine Stimme zitterte und immer wieder schluchzte ich in den Hörer.
„Bitte, du musst schnell kommen...Unfall...Ein Wildschwein..."

„Hey, beruhig dich! Was ist passiert?", seine Stimme klang mittlerweile sehr beunruhigt und ich hörte im Hintergrund, dass er bereits seine Sachen zusammenpackte.

„Ein Wildschwein...beim Schlag vom Förster...hat mich angegriffen. Bitte komm schnell her."
Mehr brachte ich nicht hervor, denn das Zittern wurde immer stärker und ich konnte das Handy nur mehr mit Müh und Not halten.

„Bist du verletzt? Kannst du zum Weg kommen?"

„Ich...ja, mein Unterschenkel. Ich denke schon..."

Der Weg war rund 300 Meter entfernt – bergab. Zur Not musste ich den Hang hinunterrutschen. Jetzt war auch schon alles egal. Nach einer kurzen Anweisung, wo mich Ferdinand finden würde, trennte ich die Verbindung, schulterte so gut wie möglich Gewehr und Rucksack und zog mich am Baum hoch – testete die Belastbarkeit des Beines: nach wie vor keine Schmerzen. Adrenalin und Schock vermutlich.

Na dann mal los, bevor sich das ändert!

Vorsichtig tappte ich den Wildwechsel, den ich gekommen war, hinunter zum Weg, an dem Ferdinand mich abholen würde. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und zog die Jacke nochmal fest um mein Bein – genauer wollte ich es mir nicht ansehen.
Einige Minuten später hörte ich bereits Motorengeräusche und Momente später tauchte der Jeep auf.
Ferdinand sprang aus dem Wagen, ich schilderte ihm kurz, was passiert war und er tätigte einen schnellen Anruf bei seinem Sohn Christian, dass dieser doch bitte das Wildschwein bergen möchte.
Dann besah er sich die Wunde („Ist nicht schlimm, muss aber genäht werden. Du hattest wirklich Glück, Giulia!"), legte einen Druckverband an und half mir schließlich ins Auto.

Eine geschlagene Stunde später saßen wir in der Notaufnahme des Landeskrankenhauses und schließlich wurde ich in den OP4 gebracht und meine Wunde versorgt. Es war wirklich Glück, dass mich der Keiler „nur" im Vorbeilaufen am Unterschenkel erwischt hatte und die Jagdhose relativ dick war: er hatte mir eine zwanzig Zentimeter lange Fleischwunde verpasst, die mit zwölf Stichen genäht werden musste. Mittlerweile ging es mir wieder einigermaßen gut und ich scherzte mit dem Assistenzarzt herum, der mich behandelte. Zum Schluss bekam ich noch eine Tetanusimpfung und eine Packung Schmerzmittel mit und Ferdinand brachte mich schließlich nachhause.

Kurz bevor wir bei meiner Wohnung ankamen, meldete sich Ferdinands Sohn: Der Keiler war geborgen und hängte nun in der Kühlkammer.

„Giulia, hörst du mich?", wollte Christian über die Freisprechanlage wissen.

„Ja."

„Guter Schuss, direkt von vorne ins Leben."

„Aha", seufzte ich, „gut, dass ich überhaupt getroffen habe, sonst würde ich wahrscheinlich nicht mehr hier sitzen."
So ganz verdaut hatte ich die Attacke noch nicht und im Moment wollte ich einfach nur heim und in mein Bett.
Kurze Zeit später hielten wir auch schon vor dem Wohnhaus, Ferdinand trug mir meine Sachen in die Wohnung und ich humpelte hinterher. Ich würde morgen mit dem Taxi ins Revier fahren um mein Auto und danach Till abzuholen.
Wir verabschiedeten uns voneinander und ich musste Ferdinand versprechen, dass ich mich morgen auf jeden Fall melden würde, wie es mir ginge. Endlich fiel die Eingangstüre ins Schloss, ich ließ mich zu Boden gleiten und schloss die Augen.

Das hätte auch ganz anders ausgehen können! Ich hatte Glück – unwahrscheinliches Glück!

Wieder schossen mir Tränen in die Augen, als das Geschehen vor meinem inneren Auge nochmals ablief. Mit der flachen Hand schlug ich mehrmals auf den Boden und verscheuchte so Paulchen, der gerade auf meinen Schoß klettern wollte.

„Tut mir Leid, Kleiner, habe dich nicht gesehen", murmelte ich, wischte mir mit der Hand die Tränen aus dem Gesicht und lockte ihn wieder zu mir. Das ließ er sich nicht zweimal sagen und saß im nächsten Moment auf meinem Oberschenkel. Der Spitalsgeruch irritierte ihn allerdings und neugierig wollte er den Verband untersuchen, doch ich schubste ihn von mir.

„Nein, lass das!"

Vorwurfsvoll bedachte er mich mit einem kurzen Blick und stolzierte dann ins Wohnzimmer – typisch Katze eben.
Tiger, der Ältere, schnupperte nur kurz an meinem Bein und ließ sich dann lieber den Kopf kraulen.
Abwesend saß ich da, streichelte und schmuste mit dem Kater, bis er es sich anders überlegte und auch im Wohnzimmer verschwand.

Langsam merkte ich, dass es draußen dunkel wurde und ich noch immer im Vorzimmer auf dem Boden saß. Ich stand schließlich auf, kramte im Rucksack nach dem Telefon, verstaute dann das Gewehr im Waffenschrank und zog mir bequemere – und vor allem saubere – Kleidung an.
Nachdem ich Dienstag sowieso arbeiten musste, konnte ich mir auch gleich eine neue Jagdhose besorgen: die, die ich bis vorhin getragen hatte, war ja total hinüber. Die Sau hatte ganze Arbeit geleistet.


DahoamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt