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Sonntag

Nach einer recht unruhigen Nacht fand ich mich bereits gegen 06:00 Uhr morgens auf der Couch wieder. Zusätzlich zu den Ereignissen des gestrigen Nachmittags, die mich fast nicht schlafen ließen, kamen in der zweiten Nachhälfte dann noch die Schmerzen im Bein hinzu.
Mehr schlecht als recht war ich durch die Wohnung gehumpelt, hatte mir Müsli zubereitet und mich damit auf der Couch vorm Fernseher niedergelassen.
Die Simpsons liefen heute offenbar in Dauerschleife und nebenbei beantwortete ich noch die Nachrichten, die gestern eingetrudelt waren. Dafür hatte ich am Abend einfach keinen Nerv mehr besessen.
Till hatte mir glücklicherweise die Flugdaten zukommen lassen, denn ehrlicherweise hatte ich über all das gestrige Chaos sogar vergessen, wann er ankommen würde. Von dem Zwischenfall würde ich ihm erst am Abend berichten.
Sogar Tanja hatte sich gemeldet und wollte natürlich ganz genau wissen, wann wir uns denn sehen würden und wie das Gespräch so gelaufen war. Um diese Uhrzeit würde ich sie sicher wecken, und das wollte ich dann doch nicht, also schrieb ich ihr eine mehr oder weniger lange Zusammenfassung vom gestrigen Tag und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, mir ginge es gut.
Meinem Bruder schickte ich ein Foto von meinem verbundenen Bein und berichtete ihm ausführlich von der Wildschweinattacke, mit der Bitte, es vorerst nicht bei meinen Eltern zu erwähnen – die machten sich sowieso immer Sorgen, wenn sie hörten, dass ich jagen ging. Bei Gelegenheit würde ich es ihnen schonend beibringen.
Ferdinand wollte wissen, was wir mit dem Keiler machen sollten, ob ich das Fleisch haben mochte. Trotz der frühen Stunde und der gestrigen Ereignisse konnte ich schon wieder darüber grinsen und antwortete ihm nur, dass wir bitte Bratwürste und Käsekrainer aus der Sau machen sollten – da würden sicher einige hundert Würste dabei rauskommen und die konnte ich gut in der Familie aufteilen und den Rest verkaufen.

Das Müsli war vertilgt, die Nachrichten beantwortet und zufrieden kuschelte ich mich in meine Decke. Gerade spielte es eine Halloween Folge der Simpsons. Ich konnte mich nur wundern: Treehouse of Horror VI und das fast Anfang Mai – naja. Mir stand der Sinn jetzt eher nach einem Buch und ich drehte den Fernseher ab. Humpelnd begab ich mich in mein Arbeitszimmer, das neben meinem Schreibtisch, meinem PC und der Kameraausrüstung (ein Mini-Foto-Studio) auch gleichzeitig meine Bibliothek beherbergte: die ganze Längsseite des Raumes bestand aus Bücherregalen. Ein Großteil davon bestand aus englischer Literatur, der Rest teilte sich auf in diverse Sachbücher, Romane, Krimis und Fotobände.
Aus letzteren wählte ich einen, mittlerweile schon ziemlich abgegriffenen, Band aus – Salvador Dalí.
Ich konnte mir stundenlang dessen Werke ansehen, ohne dass es langweilig wurde. Und ich hatte eine Schwäche für Surrealisten.
Das alles begann vor einigen Jahren, als ich das Glück hatte, ein zwei-wöchiges Praktikum bei Gottfried Helnwein in Irland zu machen. Durch die Freundin einer damaligen Arbeitskollegin wurde der Kontakt hergestellt und ich bekam eine Einladung, dem „Meister" quasi ein wenig über die Schulter zu schauen und zu helfen. Es waren die bis jetzt verrücktesten zwei Wochen meines Lebens – obwohl die paar Tage Bayern mit Till da fast anknüpfen konnten – ich habe viel gelernt, noch mehr gesehen und konnte im Anschluss sogar einen Job bei einem schottischen Festival klar machen. Durch Gottfrieds Fotografie und Kunst bin ich auch irgendwie an den Surrealismus geraten und von bereits erwähnten Festivaljob – und über ein paar sehr einflussreiche Kontakte – hatte ich mir damals einen Traum vom Kunstwerk im eigenen Heim erfüllt: Ich bin nun seit dieser Zeit stolze Besitzerin eines echten Dalí-Werkes, des Sueño causado por el vuelo de una abeja alrededor de una granada un segundo antes de despertar (Traum verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen).

Aufgrund der derzeitigen Katzensituation musste das Bild leider weichen und hängt seit vier Jahren am WC. Ein Frevel, aber immerhin sicher vor neugierigen Katzen. Mittlerweile ist mein WC eine kleine Kunstaustellung geworden, in der diverse Werke, Bilder und Plastiken hängen, was meinen immer mal wieder vorkommenden Besuch ziemlich lange am stillen Örtchen verweilen lässt.

Wieder auf der Couch schmökerte ich ausgiebig in dem Bildband und versuchte mir – wie immer – vorzustellen, wie man auf solche abstrakten oder auch teils absurden Ideen kam. Diesmal konnte ich mich allerdings nicht so ganz auf diese Welt, die sich vor mir auftat, konzentrieren, denn langsam aber sicher wurde ich doch etwas nervös. Ich wusste immerhin, dass Till Business Class flog, aber ich war schon froh, wenn ich ohne Navi zum Flughafen fand. Das letzte Mal Fliegen mit einer Passagiermaschine lag auch schon mehrere Jahre zurück. Ich wusste auch nicht, wo ich ihn genau abholen sollte – Fragen über Fragen, die meine Bemühungen, Dalí besser zu verstehen, zunichtemachten. Seufzend schloss ich den Bildband, und tippte folgende Nachricht an Till in mein Handy:

Guten Morgen, wo genau soll ich dich denn heute abholen?

Antwort erwartete ich um diese Uhrzeit sowieso nicht, daher war ich umso überraschter, als WhatsApp nach fünf Minuten Tills Nachricht mit einem leisen Piepsen verkündete.

Flughafen wäre gut

Haha. Witzig. Hatte ich ihn gerade aufgeweckt?

Haha, sehr witzig, Hr. Lindemann. WO genau?

Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Bleib einfach im Auto sitzen und warte auf mich, ok?

Langsam machte sich das schlechte Gewissen breit, dass ich ihn tatsächlich aufgeweckt hatte. Andererseits hatte er mich gestern um kurz vor 04:00 Uhr rausgeläutet!

Ich freu mich auch schon auf dich :P
tippte ich noch schnell und schaltete dann wieder den Fernseher ein, um vielleicht doch noch ein wenig „Fernsehschlaf" zu bekommen.
Das nächste Piepsen des Handys bekam ich schon gar nicht mehr mit.


DahoamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt