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Ich hatte unbewusst den Atem angehalten und rührte mich nicht von der Stelle. Das konnte doch gerade nicht wirklich passieren?
Till hatte den Kopf gehoben, saß aber nach wie vor da und starrte mich an. Hinter mir bemerkte ich, dass Raphael nervös wurde, sich zu mir beugte und mir zuflüsterte.

„Wer...hast du einen Freund?!"

Bei dem letzten Wort kam auf einmal wieder Leben in mich, ich drehte mich zu Raphael um und legte ihm die Hand auf die Brust.

„Du musst gehen. Bitte. Ich...erklär dir das ein anderes Mal, ok?", antwortete ich ihm leise.

„Brauchst du Hilfe?"
Er sah mich besorgt an und schielte wieder an mir vorbei.

„Nein, alles ok. Aber geh, bitte!"

Er warf mir einen letzten, unschlüssigen Blick zu, drehte sich dann aber um und verschwand im Stiegenhaus. Erst, als ich zwei Stockwerke tiefer die Eingangstüre zuschlagen hörte, atmete ich einmal tief durch und wandte mich Till zu.
Dieser war mittlerweile aufgestanden und sah mich an. Nach wie vor stand ich da, unfähig, mich zu bewegen. Innerlich tobten die Gefühle – eine grausame Mischung aus Wut, Verzweiflung, Freude und Angst - die letzten Wochen brachen durch meine sorgfältig aufgebaute Fassade und ich blinzelte die ersten Tränen weg. Ich tat einige Schritte in seine Richtung und bemerkte erst da, wie schlecht er aussah: er hatte Gewicht verloren, die vor Monaten noch sorgfältig weißblond gefärbten Haare sahen ungepflegt aus und der Ansatz war zu erkennen. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, sein Blick undefinierbar.

„Till...", meine Stimme brach.

Er stieß sich von der Türe ab, kam mir auf halben Weg entgegen und ich ließ mich in seine Arme fallen. Sein Gesicht an meinem Hals und in meinem Haar vergraben hielten wir uns gegenseitig fest. Ich konnte die kleinen Schluchzer nicht mehr unterdrücken – ich hatte Till wieder! Meine Augen fest geschlossen und den Kopf an seine Schulter gelehnt, sog ich seinen Duft ein und zog ihn noch fester an mich. Für einen Moment hatte ich Angst, dass das alles nur ein Traum war, aus dem ich jeden Augenblick erwachen könnte. Erst seine Stimme holte mich in die Realität zurück.

„Stehst du jetzt neuerdings auf so weichgespülte Beachboys?", nuschelte er in mein Ohr und drückte mich auch fester an sich. Der Versuch eines Witzes, der aber an seiner zitternden Stimme scheiterte. Trotzdem musste ich zwischen dem Schluchzen auflachen, streichelte ihm sanft über den Kopf und wand mich etwas aus seiner Umarmung.
Seine blauen Augen sahen mich an und ich konnte die Traurigkeit darin erkennen. Ich schluckte, versuchte mich an einem zaghaften Lächeln, während ich die Hand an seine Wange und meine Lippen auf die Seinen legte. Till zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, erwiderte aber schließlich den Kuss. Ein Beben lief durch seinen Körper als er sich seufzend von mir löste.
Eine Weile standen wir uns gegenüber, sahen uns an und sprachen kein Wort. Schließlich griff ich nach seiner Hand und führte ihn in meine Wohnung.

Die beiden Katzen hatten sich verkrochen - was mir sehr gelegen kam - als sie bemerkten, dass ich nicht alleine war. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwanden wir im Schlafzimmer. Till ließ sich auf das Bett sinken und ich nahm rittlings auf seinem Schoß Platz. Ich musste ihn sehen, seinen Körper fühlen, um meinem Hirn klar zu machen, dass er wirklich hier war.
Er schlang seine Arme um mich, bettete den Kopf an meiner Schulter und sein warmer Atem verursachte mir Gänsehaut. Unablässig strich ich über seine Haare, küsste ihn sanft immer wieder auf die Schläfe und fuhr mit den Fingern seinen Rücken entlang.
Die Minuten verstrichen und weder Till noch ich machten Anstalten, uns gegenseitig loszulassen. Erst, als sein Atem sehr ruhig und regelmäßig auf meinen Hals traf, und ich schon dachte, er wäre eingeschlafen, hob er auf einmal den Kopf und sah mich an.

„Es tut mir Leid, wie...wie ich mich verhalten habe. Aber ich konnte nicht...nach Neles Tod..."

Ich stoppte ihn, indem ich einen Finger auf seine Lippen legte. Dieser Schmerz in seiner rauen Stimme tat mir weh. Wozu sich entschuldigen? Er war schließlich hier, das war doch Entschuldigung genug.

„Du bist ja jetzt hier. Wärst du doch nicht, wenn ich dir egal wäre, oder?", flüsterte ich.

Ein erleichtertes Aufatmen und Nicken war Antwort genug. Doch in der nächsten Sekunde verfinsterte sich sein Ausdruck und die Frage, mit der ich eigentlich schon viel früher gerechnet hatte, wurde in den Raum geworfen.
„Und der Typ vorhin? War das dein Neuer?"
Ein wenig Verunsicherung schwang in seiner Stimme mit, obwohl er sich Mühe gab, dies hinter seiner Miene zu verbergen.

Ich konnte das leise Lachen nicht unterdrücken.
„Till...ernsthaft?? Du siehst mich mit einem Typen heimkommen, den ICH wegschicke, um MIT DIR dann in mein Schlafzimmer zu gehen. Glaube mir, du würdest jetzt nicht hier sitzen, wenn ich jemand anderen hätte."
Grinsend hauchte ich einen Kuss auf seinen Mund und fügte nuschelnd hinzu: „Und nein, weichgespülte Beachboys sind so gar nicht mein Fall!"

Die Erleichterung war ihm förmlich anzusehen. Wieder saßen wir lange da und hielten uns einfach im Arm – so lange, bis meine Füße anfingen, taub zu werden, und ich aufstehen musste. Vor seinen Augen entledigte ich mich meiner Kleidung, die ich achtlos zu Boden warf. Till tat es mir gleich und wir schlüpften unter die Decke.
In dieser Nacht war er es, der sich an mich kuschelte und zeitweise drohte, mich zu erdrücken, so doll hielt er sich an mir fest – als wäre ich der rettender Anker in einer stürmischen See. Dass er mir dieses Vertrauen entgegen brachte und in meiner Gegenwart so loslassen konnte, erfüllte mich mit tiefer Dankbarkeit.
Irgendwann begann Till zu sprechen – er erzählte von seiner Ankunft in Berlin und dem einen Anruf, der ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hatte. Nele war im Krankenhaus verstorben, während er im Flieger gesessen hatte. Dass er die darauffolgenden Tage mit seiner Schwester in seinem Haus verbracht, sich betrunken hatte und nicht ansprechbar war. Er berichtete von seinen Kumpels, besonders Flake, die ihm ins Gewissen gesprochen und ihn aus diesem dunklen Loch herausgeholfen hatten. Kurzzeitig war sogar angedacht gewesen, die ersten Termine der Tour zu verschieben, was aber dank seiner Freunde und Kollegen doch nicht vonnöten gewesen war.
Schließlich erklärte er mir doch noch, warum er sich nicht gemeldet hatte: Jedes Mal, wenn er kurz davor gewesen war, mir zu schreiben oder mich anzurufen, war der Abend am See in seinem Geiste aufgetaucht. Der Abend, an dem er von Nele erfahren hatte.

Ruhig lag ich da, hielt ihn fest und ließ ihn reden. Vereinzelte Tränen liefen mir stumm über die Wange, aber ich machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Stille machte sich im Raum breit.

„Das heißt, ich habe dir das Segeln wohl vermiest", murmelte ich gegen seine Haare.

„Nein, das nicht, aber...vielleicht nicht in der nächsten Zeit und nicht...dort."

Eine Frage brannte in mir.
„Wie lange bleibst du?"

„Drei Tage, wenn das für dich okay ist? Am 26. in der Früh geht mein Flug nach Trondheim."

Und ob es das war.

DahoamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt