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Es hatte gereicht, wenn auch knapp. Die Batterie hatte den Motor die letzten Meter im Hafen schon ziemlich stottern lassen. Till hatte sich auf der Überfahrt den nächsten Flug zurück nach Berlin organisiert, was bedeutete, dass wir direkt vom See zum Flughafen fahren mussten. Seine restlichen Sachen, die noch bei mir daheim lagen, würde ich ihm per Post nachsenden.
Still sammelten wir unser Hab und Gut ein und machten uns schließlich auf den Weg zum Auto. Niemand sprach ein Wort. Ich wollte ihm zur Seite stehen, ihn wissen lassen, dass ich für ihn da war, aber er blockte jeglichen Versuch meinerseits ab. Einerseits verstand ich ihn, andererseits tat es doch weh, so abgeschoben zu werden.
Die Fahrt nach Wien-Schwechat verlief schneller, als mir lieb war. Dadurch, dass es erst früh am Morgen war, hielt sich der übliche Pendlerverkehr in Grenzen. War es nicht immer so? Sobald man etwas Unangenehmes erledigen musste, steckte man weder im Stau noch hielten einen rote Ampeln davon ab, zu spät zu kommen. Aber wehe, man freute sich auf etwas und sollte pünktlich sein, dann konnte man davon ausgehen, dass irgendwas dazwischen kam. Ein klassisches Beispiel für Murphy's Law.
Nur mehr wenige Minuten trennten uns vom Abschied. Till saß am Beifahrersitz – um's Verrecken hätte ich ihn heute nicht fahren lassen – und starrte abwesend aus dem Fenster. Ich hatte meine Hand auf seinen Oberschenkel gelegt, doch selbst diese Geste wurde ignoriert oder nicht wahrgenommen. Der Kloß in meinem Hals wurde größer und größer und als ich vor der Abflughalle hielt, hatte ich Mühe, die Tränen zu unterdrücken. Innerlich schimpfte ich mit mir selbst: wenn jemand Grund zu weinen hatte, dann ja wohl er! Und ich heulte hier fast herum, weil er nicht mit mir sprach...
Till machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Nach wie vor sah er aus dem Fenster.

„Till? Wir sind da", zögernd sprach ich ihn an.

Langsam wandte er sich mir zu und ein leerer Blick traf mich. Dann sah er sich kurz um, schnallte sich ab und verließ das Auto, um seine Tasche aus dem Kofferraum zu holen. Ich stieg ebenfalls aus und kam auf ihn zu. Er hatte seine schwarze Sonnenbrille und die Kappe aufgesetzt und drehte sich in meine Richtung.

„Till...ich...meldest du dich, wenn du angekommen bist? Und...wenn du weißt, was mit Nele los ist?"

Bei dem Wort Nele zuckte er ein wenig zusammen, nickte dann aber.
Schweigend standen wir uns gegenüber. Ich hätte ihn so gerne in den Arm genommen, fürchtete mich aber vor einer ablehnenden Reaktion und ließ es bleiben. Er schien zu überlegen, wie er diese seltsame Situation auflösen konnte. Ich starrte auf den Boden und fixierte einen Punkt neben seinen Schuhen. Überraschend tat er einen Schritt in meine Richtung, beugte sich vor, hauchte mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Es tut mir Leid!"
Dann wandte er sich ab und verschwand im Gebäude.

Wieder stand ich plötzlich allein gelassen da – mit Tränen in den Augen – genauso wie vor knapp drei Wochen. Und wieder wusste ich nicht, wie es mit uns weiter ging. Ich wischte mir die Tränen von der Wange, setzte mich ins Auto und fuhr nachhause. Die Musik bis zum Anschlag aufgedreht, nickte ich im Takt zu den Klängen von Paradise Lost's Album Tragic Idol. Ich musste, zumindest für die Dauer der Autofahrt, auf andere Gedanken kommen. Und Metal half mir da meistens weiter.
Daheim angekommen wurde ich schon ungeduldig von den beiden Katzen begrüßt. Ich lehnte die Krücken an die Wand, setzte mich im Vorzimmer auf den Boden und holte die Streicheleinheiten des letzten Tages nach. Nach einer Weile wurde es den beiden zu bunt und sie verschwanden wieder. Ich rappelte mich auf und machte mich daran, Tills Gewand zusammen zu suchen und zu packen. Leichter gesagt, als getan, wie ich feststellen musste, denn immer wieder traten die Erinnerungen der letzten Tage in den Vordergrund und trieben mir die Tränen in die Augen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich alles soweit beisammen, verpackte das ganze so gut wie möglich in einem Karton und machte mich auf den Weg zur Post. Natürlich hätte das auch warten können, aber es machte mich fertig, dauernd seine Sachen zu sehen. Schöne Erinnerungen hin oder her, und er würde auch froh sein, das Gewand schnellstmöglich wieder zu haben.

Eine Stunde später war alles erledigt und ich wieder zurück in der Wohnung, kramte meine iPod aus der Handtasche hervor, machte es mir auf der Couch bequem und setzte die Paradise Lost Session aus dem Auto fort – in einer Lautstärke, dass ich meine eigenen Gedanken nicht mehr hören konnte. Am Rücken liegend, die Augen geschlossen, umfing mich die Musik und linderte den Schmerz ein wenig. Manchmal konnte nur laute, harte Musik, die Gedanken eindämmen.

Doch selbst die irrwitzige Lautstärke half nicht, dass ich nicht doch wieder einschlief. Gut, schließlich war ich seit drei in der Früh munter. Es war bereits 16:30 Uhr, als ich die Augen verwundert aufschlug, und mich erst orientieren musste. Ich hatte vom See geträumt, von Till der neben mir am Boot lag und nun wachte ich daheim auf meiner Couch auf, allein.
Die Ereignisse der letzten Stunden prasselten mit voller Wucht auf mich ein und das entspannte Gefühl verschwand auf der Stelle. Zurück blieben unfassbar traurige Gedanken und Magenschmerzen, die ich allerdings auf das nicht vorhandene Essen des heutigen Tages schob.

Ein Blick auf mein Handy irritierte mich: Keine Nachricht, kein Anruf, nichts. Dabei müsste Till doch schon seit Stunden in Berlin angekommen sein. Unschlüssig wischte ich auf dem Display durch die Nachrichten und Fotos. Sollte ich ihm schreiben? Ich entschied mich dagegen. Er hatte momentan wahrlich andere Sorgen, als seinem Zeitvertreib eine SMS oder WhatsApp-Mitteilung zu schicken. Dass ich mich selbst als Zeitvertreib betitelte, ließ mich schlucken. War ich das? Einige Minuten dachte ich darüber nach, kam aber auf keine befriedigende Antwort.
Seufzend erhob ich mich schlussendlich und machte mich daran, etwas Essbares herzustellen. Eine tiefgefrorene Gemüsesuppe war alles, was halbwegs schnell machbar war.
Während der Gemüse-Eisklumpen im Topf auf dem Herd vor sich hinschmolz, und ich den Tisch deckte, klingelte mein Telefon. Ich griff danach und mein Herz setzte einen Schlag aus – es war Till!
Mit zitternden Fingern nahm ich das Gespräch entgegen.

„Hi, bist du gut angekommen? Wie geht's Nele?", versuchte ich einen halbwegs fröhlichen Ton anzustimmen, doch meine Stimme bebte.

Einen Moment lang war es still in der Leitung.

„Nele ist tot."

DahoamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt