Mir war heiß und ich konnte nicht mehr einschlafen. Schwitzend schlug ich die Decke sachte zurück und streckte die Beine aus – soweit das möglich war. Im Bug war es doch ziemlich eng zusammen mit Till, und, obwohl es draußen merklich abgekühlt hatte und die Dachluke ein Spalt offen war, fühlte ich mich wie in einem Ofen. Ich lag schon seit einer gefühlten Ewigkeit wach. Till schnarchte leise neben mir. Wenn ich mit etwas überhaupt nicht umgehen konnte, dann waren das Schlafprobleme: so etwas kannte ich nicht! Normalerweise schlief ich so zwischen acht und neun Stunden, dazwischen konnte der dritte Weltkrieg ausbrechen, ich würde es nicht mitbekommen. Umso schlimmer, dass es mir nun nicht gelingen mochte. Langsam gingen mir auch die Ideen aus und dummerweise lag mein Handy draußen auf dem Tisch. Damit herum spielen wäre allerdings auch kein guter Plan, denn ich wollte Till nicht aufwecken.
Minuten oder Stunden verstrichen, wer konnte das schon sagen? Der Schweiß stand mir auf der Stirn, mein Shirt war am Rücken klatschnass und ich hielt es einfach nicht mehr aus – sollte er doch wach werden! Vorsichtig drehte ich mich auf den Bauch und robbte durch die Öffnung, zog mich an der Küchenzeile nach vorne, bis ich die Beine unter meinen Körper brachte und hinkte die Leiter hinauf ins Freie. Im Vorbeigehen schnappte ich noch die Jacke, die ich vormittags unordentlich in die Einzelkoje geworfen hatte.
Die kühle Nachtluft schlug mir entgegen und gierig atmete ich tief ein und aus. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es kurz nach drei Uhr morgens war. Eine Weile stand ich nur da, lauschte dem Plätschern im nahen Schilf, dem vereinzelten Quaken einer Frösche oder Kröten, die wohl auch nicht schlafen konnten, und starrte in den Himmel. Der Halbmond breitete sein silbriges Licht über den See, das sich in den Wellen brach und sie zum Glitzern brachten. Ich suchte nach den einzigen beiden Sternbildern, die ich auf Anhieb erkannte: den Großen und Kleinen Wagen.
Erst das Frösteln und die Gänsehaut rissen mich aus meiner Starre und ich schlüpfte in die Jacke. Anschließend machte ich es mir mit der Decke auf der Badeplattform gemütlich und schaute in die Dunkelheit.
Hm, eine Zigarette wäre jetzt nicht schlecht…
Ich schielte über die Schulter, entdeckte Tills Päckchen auf der Sitzbank. Kurz war ich drauf und dran, der Versuchung nachzugeben, doch dann fielen mir der Zigarettenzwischenfall und die Übelkeit aus Bayern wieder ein und angewidert schüttelte ich den Kopf.
Bayern…es fühlte sich an, als ob eine Ewigkeit dazwischen liegen würde – so viel war in der Zwischenzeit geschehen. Meine Gedanken drifteten zwischen den Ereignissen der letzten Tage und Wochen hin und her, blieben aber immer bei Till hängen. Was sollte das werden? Sollte es überhaupt etwas werden?
Geräuschvoll ließ ich die Luft aus meinen Lungen entweichen. Es nervte mich selbst, dass ich mir darüber den Kopf zerbrach.
Warum machst du es dir selber so schwer? Kannst du nicht einfach den Kurztrip mit ihm genießen? Aber nein, immer alles zerdenken!
Ach, Schnauze! schalt ich mich leise.
Dennoch beschäftigten mich diese Gedanken weiter, genauso wie dieses flaue Gefühl in der Magengegend, dass mir gestern Vormittag schon aufgefallen war. Ich wollte mich nicht verlieben, Himmel noch eins, er konnte alterstechnisch mein Vater sein, und darüber, dass ich offensichtlich einen Vaterkomplex entwickelt hatte, sollte ich mir ernsthaft mehr Sorgen machen. Trotzdem sprang ich auf diesen Kerl an wie die Motte auf das Licht.
Vielleicht doch eine Zigarette?
Seufzend wickelte ich die Decke enger um mich. Irgendwie musste ich das Thema trotz alldem ansprechen. Blieb nur die Frage, wann der beste Zeitpunkt wäre. Gleich heute Morgen? Oder kurz bevor er wieder abreiste? Und wie, dass ich nicht wie ein verknallter Teenager klang? Wahrscheinlich wollte er nur ein bisschen Spaß und sich die Zeit bis zum Tour-Alltag vertreiben und ich bildete mir die große Liebe ein.
Ein Piepsen hinter mir riss mich aus meinen Überlegungen. Anfangs konnte ich es nicht zuordnen, erst, als es verstummte und ich Tills verschlafene Stimme wahrnahm, dämmerte mir, dass sein Handy geläutet haben musste.
Um diese Uhrzeit?
Wortfetzen wehten zu mir herüber – irgendetwas stimmte nicht. Tills Stimme wurde lauter, Panik schwang mit. Ich stieg von der Plattform wieder ins Boot, unschlüssig, was ich tun sollte. Lauschen wollte ich nicht, was sich aber aufgrund des begrenzten Raumes kaum vermeiden ließ. Erschrocken fuhr ich herum, als ich meinen Namen hörte.
„Giulia?“
„Ich bin hier. Heraussen“, flüsterte ich.
Das Boot wankte von einer Seite zur anderen, als Till aus dem Bug kletterte und die Leiter hinauf stieg. Mit der Taschenlampe seines Handys leuchtete er mir entgegen. Geblendet trat ich einen Schritt zurück und er ließ die Hand sinken.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich nach, obwohl ich Angst vor seiner Antwort hatte.
Er stand einfach nur da und atmete schwer. Ich nahm ihm das Telefon aus der Hand und legte es ab, dass dieses unangenehme Licht nicht mehr blendete. Mehr als seine Silhouette konnte ich nicht erkennen, da noch immer Lichtpunkte vor meinen Augen tanzten. Er gefiel mir nicht, seine Haltung, sein Atem, diese Stille…irgendwas war hier absolut nicht in Ordnung.
„Till?“
Ich griff nach seiner Hand. Plötzlich sank er, an die Bank gelehnt zu Boden und zog mich unsanft mit hinunter. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch das verletzte Bein und ich biss die Zähne zusammen.
„Scheiße…“
Der Versuch, ihn zu stützen, misslang mir kläglich und so landete ich halb neben, halb auf ihm.
„Bitte, sprich mit mir. Was ist passiert?“
Minuten vergingen, ohne, dass ein Laut über seine Lippen kam. Mittlerweile saß ich zwischen seinen angewinkelten Beinen und hielt seine Hände. Er starrte in den Himmel. Sein stoßweiser Atem hatte sich halbwegs beruhigt, doch immer wieder lief ein Zittern durch den ganzen Körper. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Langsam machte sich Panik in mir breit, ich strich ihm über die Wange und zwang ihn sanft, in meine Richtung zu sehen. In seinen Augen reflektierte das Mondlicht und in einer anderen Situation wäre dies sicher ein wunderschön, romantischer Moment gewesen, aber so…
„Nele“
Die sonst so angenehme, weiche Stimme klang rau und gepeinigt. Till hatte seine Wange an meine Handfläche gelegt, die Augen geschlossen.
„Ich muss…zurück. Heute.“
Eisige Kälte machte sich schlagartig in mir breit, als hätte mich jemand in kaltes Wasser gestoßen.
„Wa…warum? Was ist los?“
„Nele…“
Er musste einige Male tief durchatmen, bevor er wieder sprechen konnte.
„Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie haben sie zwar rechtzeitig gefunden, aber…“
Er musste den Satz nicht beenden, um mir zu verstehen zu geben, dass es nicht gut um sie stand. Ich war wir betäubt. Till so vor mir sitzen zu sehen, brach mir fast das Herz. Schweigend nahm ich ihn in den Arm und erst als es dämmerte, löste er sich von mir und verschwand im Inneren des Bootes.
Es war still um mich herum, als ob jemand sämtliche Geräusche und den Wind abgedreht hätte. Wie in Trance lichtete ich den Anker, startete den Motor und flehte das Universum an, dass die Batterie aushalten möge, bis wir den Hafen erreicht hatten.

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Dahoam
FanfictionIn Gedanken versunken beobachtete ich die Gegend, genoss die Sonne und hörte erst viel zu spät den Schotter knirschen, was darauf hindeutete, dass ich gleich Gesellschaft bekommen sollte. Ein genervtes „Geh bitte... echt jetzt?" kam über meine Lippe...