Kapitel 55

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Kapitel 55

Raphael Ragucci

„Jetzt heiratet meine kleine Schwester also noch vor mir. Wer hätte das gedacht? Oder besser gesagt: Wer hätte es nicht gedacht?", sprach ich meine Gedanken aus, die mir den ganzen Abend über schon im Kopf herum spukten. Fleur hatte den Antrag ihres Freundes- beziehungsweise ihres Verlobten- quasi unterm Weihnachtsbaum bekommen. Ein wenig sehr kitschig und vorhersehbar in meinen Augen aber das sprach wahrscheinlich der große Bruder aus mir, der noch immer nicht so ganz wahrhaben wollte, dass die kleine, süße Schwester inzwischen erwachsen geworden war.

Ich zog meine Schuhe aus, stellte sie neben die Eingangstür in das Schuhregal in meiner Wiener Altbauwohnung.

„Tja, da ist sie dir wohl ein paar Schritte voraus. Aber ich freue mich für sie. Die beiden sind ein süßes Paar." Relia lächelte, ehe sie sich ebenfalls daran machte, ihre Schuhe auszuziehen. Das hatte sie auch schon mal weniger umständlich geschafft, ihr Bauch wurde quasi von Tag zu Tag runder und schränkte sie mehr und mehr in ihrer Bewegungsfreiheit ein. Bisher nahm sie es mit Humor, zum Glück.

„Das sind sie. Und ich freue mich auch.", antwortete ich. Relia war tatsächlich über Weihnachten mit mir nach Wien gekommen denn Theo hatte es sich nicht noch einmal überlegt, nicht ohne sie in den Urlaub zu fliegen. Sie hingegen hatte sich an ihre Worte gehalten und sich von ihm getrennt. Ich war dagewesen und hatte sie getröstet, obwohl wir sicherlich beide wussten, dass ich nicht traurig über diese Trennung gewesen war. Ganz im Gegenteil, ich hatte beschlossen, diese Chance für mich zu nutzen. Wir waren gerade zurückgekommen, hatten meine Mutter und meine Schwester besucht, dort Heilig Abend verbracht. Es war schön gewesen, sie hatte sich gut mit meiner Familie verstanden auch, wenn sie ein wenig wehmütig an ihre eigene gedacht hatte, die tausende Kilometer weiter in Deutschland an der Ostsee saß und nicht auf ihre Weihnachtsgrüße reagierte. Immer wieder versuchte Relia, Kontakt zu halten, war frustriert und traurig, dass sie keinerlei Antwort bekam. Sie tat mi Leid und ich hoffte, dass es besser wurde, wenn unser Baby erst mal auf der Welt war. Obwohl ich dafür zugegeben eher schwarz sah.

„Ich würde gern sehen, wie du als Trauzeuge Wiener Walzer tanzen musst.", grinste sie dann, ehe sie an mir vorbei in die Küche lief und ich lachte auf. Hoffte, dass Fleur diese Androhung nicht ernst meinte, ich war schließlich nicht Johnny Castle.

„Niemals. Nicht mal für meine Schwester. Ich kann nicht tanzen."

„Darum wäre es ja so lustig. Komm, Tanzkurs mit Abudi und Christina? Damit du es lernst und dir allein nicht so blöd vorkommst?" Relia lachte bei der Vorstellung laut auf.

„Abudi? Tanzen?" Mein Kopfkino begann zu laufen und ich stimmte in ihr Lachen ein. Das war die absurdeste Vorstellung überhaupt, wie der massige Abudi übers Parkett schwebte. „Stell dir das mal bildlich vor."

„Spielverderber.", prustete Relia. „Wie wäre es mit Salsa?" Sie drehte sich einmal, machte ein paar Schritte und bewegte so gut sie es noch konnte ihre Hüfte. Die war verflucht beweglich, hatte ich mal feststellen dürfen.

„Bitte, Reli. Ich will mir nicht vorstellen, wie Abudi mit dem Arsch wackelt. Und ich mache das mit Sicherheit auch nicht. Fleur kann sich auf den Kopf stellen, sie soll allein tanzen."

„Oh man." Sie zog eine Schnute und lachte laut. „Das wäre aber lustig. Du gönnst mir auch kein bisschen Spaß."

„Wir können anderweitig Spaß haben. Ein Zimmer weiter." Ich zog meine Augenbrauen hoch und sah auf sie herunter.

„Mit der Spielekonsole?", fragte sie trocken. „Im Wohnzimmer?"

„Genau das meinte ich.", gab ich zurück und sie schüttelte den Kopf.

In between  /RAF CamoraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt