70| Nur für heute

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𝙻 𝙸 𝚈 𝙰

,,Hallo?", irritiert davon, dass ich Merts Namen las, ging ich ans Handy.
,,Liya?"

Wieso müssen Menschen immer so komische Fragen stellen am Telefon? Nein, du hast zwar Liya angerufen, aber hier ist Homer Simpson.

,,Ja?" ,,Wollte dich was fragen.. Ich weiß, dass du und Enes nicht mehr so dicke seid aber.. kannst du vielleicht bisschen nach ihm sehen? Er streitet es zwar ab aber ich weiß, dass es ihm heute nicht so gut geht und uns lässt er nicht so ran. Ich glaube, du würdest ihm am besten tun, an so einem Tag wie heute."

Das war doch sicherlich Enes' Idee.

,,Und bevor du fragst, nein, Enes weiß nichts davon, dass ich dich gerade anrufe"

Als hätte er meine Gedanken gelesen.

,,Was ist denn heute ?", fragte ich, da ich das nicht so ganz heraus hören konnte.
,,Weißt du das nicht? Der Todestag seines Vaters. Seine Mutter und Schwestern sind bei anderen Familienangehörigen. Er streitet es ab aber ich weiß, dass der Tag ihn  jedes Jahr belastet. Ich war den ganzen Tag bei ihm, muss jetzt aber leider gehen", teilte er mir mit. Jetzt weiß ich auch, wieso er die ganze Zeit am Telefon so flüstert.

,,Wann gehst du los?", fragte ich Mert.
,,Jetzt"

Ich hasse ihn. Ich hasse diesen Vollidioten...und trotzdem gibt es noch diesen kleinen Fetzen seines Seins, welches mir unerklärlicherweise noch immer am Herzen liegt. Genau das drückte mein Seufzen gerade aus.

,,Dann öffne mir die Tür. Ich bin in 30 Sekunden da."

Bescheuert. Ich bin einfach nur bescheuert. Warum kann ich nicht einfach nein sagen?!
Vor zehn Minuten streiten wir uns noch vor meiner Haustür und jetzt gehe ich ihm Gesellschaft leisten. Bescheuert. Einfach bescheuert.
Mit diesen Gedanken öffnete ich den Kühlschrank und nahm zwei RedBull Dosen raus. Das war damals schon fast ein Ritual für uns.

Meine Schuhe angezogen, lief ich leicht aufgeregt zum Nebenhaus.

,,Wo ist er?'' , fragte ich Mert begrüßungslos. ,,Dach'', erwiderte er trocken.

,,Ach und Liya'', ertönte er, bevor er die Tür hinter sich schloss. ,,Danke!'', kam es leise und ehrlich aus ihm heraus. Ich nickte nur, bevor er aus dem Haus verschwand und machte mich auf den Weg nach oben.

𝙴 𝙽 𝙴 𝚂

,,Man Mert, ich hab' doch gesagt, du kannst nach Hause gehen!'', beschwerte ich mich, als ich hörte, wie er hinter mir das Dach betrat, auf dem ich mich gerade befand. ,,Er ist ja auch gerade gegangen", erklang eine zarte, weibliche Stimme. Eine Stimme, die sofort meine Blutbahn durcheinander brachte und spürbare Funken in meinem Brustkorb auslöste. Zu all dem, war diese sanfte, zarte, Stimme fähig.

Ein kleiner Luftstoß verließ meine Nase. Kopfschüttelnd drehte ich mich zu ihr um und blickte in ihr verunsichertes Gesicht. Ein leichtes, schiefes, schüchternes Lächeln bildete sich auf ihren Lippen. Kommentarlos hockte sie sich neben mich hin und reichte mir eine Getränkedose. Verwirrt nahm ich sie an. ,,Mert?'', fragte ich, da mir dies als die einzig plausible Erklärung schien. ,,Ja", sagte sie schüchtern, ohne mich anzusehen.

Ich wollte keinen Mitleid..von niemandem.. Ich weiß Merts Besorgnis zu schätzen, doch mir geht es gut. Er hätte das nicht tun sollen. Ich möchte niemanden neben mir haben, der sich gezwungen fühlt hier zu sein.

,,Du musst nicht hier sein" Paradoxerweise beobachtete ich konzentriert die Leere vor mir.

,,Ich wieß. Ich möchte aber" Ihr Blick war in die selbe Richtung gerichtet. Wir sahen nichts an. Es gab nichts zu sehen, doch es verhalf uns beiden, nicht den anderen ansehen zu müssen.

,,Ich dachte, du bist sauer auf mich"
Meine Augen bewegten sich kein Stück.

,,Bin ich auch" Sie hatte es schon immer geliebt, ihren Worten mit ihren eigenen Taten zu widersprechen. Ein kleines Schmunzeln erleuchtete mein Gesicht, als ich ihren Blick auf mir spürte. Ich sah in ihr unschuldig lächelndes Gesicht und konnte ein kleines, kurzes Lachen nicht aufhalten.

Mit einer Hand in der Hosentasche, kramte sie etwas heraus und überreichte es mir.

,,Liya, Ich kann damit nichts mehr anfangen. Verkauf's einfach oder so" Sofort änderte sich meine Miene, als sie mir die Kette überreichen wollte.

,,Ich will es nicht zurück geben. Du sollst sie mir ummachen" Sie sah mir direkt in die Augen. Nach so vielen Monaten, sah sie mich an, ohne jegliche Wut oder Abneigung. Sie sah mir einfach in die Augen. Ganz ruhig. Ganz still. Ihre Zähne waren nicht zusammengekniffen, ihr bedrohlicher Zeigefinger nicht gehoben, ihr Atem nicht schnell und ihr Blick nicht gefüllt mit Hass. Wahrscheinlich ließ ich zu lange auf eine Reaktion von mir warten, da ich vertieft in diesen Blick war, den ich so sehensüchtig vermisst hatte. Ich konnte kaum genug von ihm bekommen, weswegen sich meine Augen keine Sekunde abwendeten.

Ich nahm ihr Kommentarlos die Kette ab und öffnete den Verschluss. Sie rückte ein Stück näher an mich und drehte sich langsam mit ihrem Rücken zu mir um. Ich verstehe sie nicht. Ich konnte sie nicht verstehen. Es war nicht möglich so jemanden zu verstehen. Vorhin sagte sie mir, ich wäre ihr egal, dann taucht sie plötzlich hier auf. Wie soll man da nicht den Verstand verlieren? Wie soll man einen kühlen Kopf bewahren können, wenn man so einen unberechenbaren Widerspruch in sich selbst, in der Gestalt eines Menschen in seinem Leben hat? Und wie soll man nicht verrückt werden, wenn man so einen unberechenbaren Widerspruch in sich selbst,
in der Gestalt eines Menschen mal in seinem Leben hatte, aber kurz davor war, diesen vollständig zu verlieren?

Behutsam glitt meine Hand zu ihrem Nacken. Ihre weichen Haare rutschen fast wie von selbst über ihre Schulter. Sanft half ich etwas nach und streifte die verbleibenden Haare an ihrem Nacken entlang aus dem Weg. Sobald ich mich ihr genähert hatte, versuchte ich meinen Atem unter Kontrolle zu halten. Sie würde nun jeden einzelnen Atemzug auf ihrer Haut spüren und ich wollte nicht, dass sie mitbekam, wie die Aufregung in mir anstieg.

Mit jedem Zentimeter den ich zwischen uns schloss, stieg mir ihr Duft immer intensiver in die Nase. Es war diese einzigartige Mischung aus etwas unheimlich süßem, warmen, weichem und etwas frischem, leichtem, sauberen. Er löste jedes mal ein gewaltiges aber dennoch zartes Kribbeln in mir aus, weswegen meine Hände zwei oder sogar drei Mal vom Verschluss abrutschten.

Als ich sie angebracht hatte, verweilte ich noch einen Moment in der Position. Ich wollte mich noch nicht so schnell von ihr lösen. Ich zog einige male ihren Duft ein und streifte dann sanft ihre seidenweichen Haare wieder nach hinten, was ihr vermittelte, dass ich nun fertig war.

Sie drehte sich langsam zu mir um und sah mich lächelnd an ,,Wie sieht sie aus ?", fragte sie mich erwartungsvoll.

,,Wunderschön", antwortete ich, ohne eine Sekunde auf die Kette geguckt zu haben.

Sofort senkte sich ihr Blick und sie biss sich verlegen auf die Lippe. Sie war wie ausgetauscht. Eine Hälfte von mir, wollte nicht, dass sie hier ist, nur weil sie Mitleid mit mir hatte. Die andere Hälfte von mir, wollte alles ignorieren und einfach nur ihre Anwesenheit genießen.

,,Tut mir leid, dass ich vorhin so ausgerastet bin.." Ich war überrascht von mir. Überrascht darüber, dass ich mich gerade so zwanglos bei ihr entschuldigt hatte. Überfordert seufzte sie auf und tat etwas vollkommen unerwartetes.

Sie nahm meinen Arm, hob ihn an, lehnte sich an meinen Körper und legte meinen Arm auf ihren Schultern wieder ab. Langsam glitt ihre Hand über meinen Bauch.. soweit, bis sie mich umarmte. Etwas verunsichert, ein wenig schüchtern.

,,Können wir einfach so tun, als wenn alles Ok wäre.. nur für heute?", ertönte ihre sanfte Stimme.

Ego vs. EgoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt