{32} All Eyes On Me, pt. 3

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Kasimirs Hand fühlte sich eiskalt an, als hätte ihm die Aufregung die Wärme aus den Fingern gesogen. Ausgerechnet er würde als erster Kandidat vor allen Anwesenden spielen müssen. Leo konnte sich nur in Ansätzen vorstellen, wie es gerade in ihm aussehen musste, versuchte jedoch, ihm mit seinem positiven Auftreten die Last auf den Schultern zu erleichtern. Auch wenn Kasimirs versteinerter Gesichtsausdruck keine Rückschlüsse auf die Wirkungsweise seiner Taktik zuließ.

»Frau Dr. Helbig hat gerade die Begrüßungsansprache gehalten«, sagte Leo, als sie gemeinsam den Saal betraten. Die Sitzreihen hatten sich aufgelöst; alle achtzehn Teilnehmer, fünf Juroren und die mitangereisten Zuhörer standen über den Raum verteilt in losen Grüppchen beieinander.

Leo traute sich kaum, Kasimir in die Augen zu sehen. Die Situation musste ziemlich miese Erinnerungen in ihm hervorrufen. Er hielt nach Francesca Ausschau, konnte sie in dem Gedränge allerdings nicht ausmachen.

»Na, Leonie? Hast du deinen Mafia-Drachen aus den Augen verloren?«

Überrascht drehte sich Leo um, wenngleich ihm diese Stimme keineswegs unbekannt war. Dawids flegelhaftes Zahnweißlächeln strahlte ihm förmlich entgegen, und er erwiderte die Geste ehrlich erfreut.

Als er bemerkte, wie Kasimirs Blick zwischen ihm und dem Neuankömmling wechselte, zog er ihn etwas näher an sich heran und legte Dawid im gleichen Zug kameradschaftlich die Hand auf die Schulter.

»Hasitzky, darf ich vorstellen? Das ist Dawid Eilinger. Wir kennen uns schon seit einigen Jahren. Er hat die Harmonica auch zweimal gewonnen.«

»2011 und 2014«, stellte Dawid fest und reichte Kasimir aufgeschlossen die Hand. »Du bist also dieser Lausebengel, der unserer Leonie ihren dritten Sieg abgeluchst hat? Wie heißt du, Hasi-irgendwas?«

»Hasenick«, erwiderte Kasimir kühl und ignorierte kurzerhand Dawids Begrüßungsgeste.

»Ja, sag ich doch«, gab er grinsend zurück. »Witziger Name.«

Leo überkam ein ungutes Gefühl beim Gedanken, dass Kasimir dem seiner Ansicht nach besten Pianisten des Wettbewerbs zuerst begegnete. Dawid nahm niemals ein Blatt vor den Mund, und seine hochgewachsene, etwas kräftigere Statur hatte bisher jeden Konkurrenten eingeschüchtert. Hinzu kam sein bis ins letzte Detail durchdachter Kleidungsstil, neben welchem Kasimirs eigenartige Homewear-Kombination recht farblos wirkte. Und das schien nicht nur Leo so zu sehen.

»Netter Style übrigens«, sagte Dawid und fuhr sich durchs dunkelbraune Haar. »Leos Geschmackssinn, was Kleidung betrifft, ist auch völlig für die Katz'. Insofern passt ihr ganz gut zusammen.«

»Sag mal, hast du Paula gesehen?«, lenkte Leo ein, als er bemerkte, wie sich Kasimirs Blick verfinsterte.

»Keine Ahnung, wahrscheinlich hat sie sich auf dem Klo verbarrikadiert und kommt erst wieder raus, wenn ihr Stündlein geschlagen hat. Lustig, dass sie gleich als Zweite ranmuss, dieser kleine Schisshase. Wer war nochmal das arme Schwein vor ihr?«

Dawid blickte sich um, während Leo unangenehm berührt die Lippen verzog.

»Ähm, also ...«

»Ich«, sagte Kasimir, woraufhin sich Dawid ihm wieder interessiert zuwandte. »Ich eröffne den Wettbewerb.«

»Wirklich? Dann hast du ja mächtig Pech gehabt, Hasi. Aber einer muss halt in die Schüssel greifen, nicht wahr?«

Daraufhin klopfte er ihm amüsiert auf den Rücken und verabschiedete sich fürs Erste. Leo spürte förmlich, wie die Gereiztheit Kasimirs Aufregung ein Stück beiseitegeschoben hatte.

»Was war das für ein Idiot?«

»Mach dich seinetwegen nicht fertig«, sagte Leo beschwichtigend. »Er ist kurz nach dir dran. Ich meine, er tritt mit seinem Siegertitel von 2014 auf. Broken Rainbow‹. Er hat das Stück auf Grundlage seiner Eindrücke bei der Loveparade 2010 geschrieben. Als diese Massenpanik ausgebrochen ist, falls du dich erinnerst. Er war dort.«

»Interessiert mich nicht.«

»Nein, ist auch nicht wichtig ... aber Dawid ist ein starker Konkurrent. Er hat nur zweimal an der Harmonica teilgenommen und war in beiden Versuchen erfolgreich. Die Siege kommen nicht von irgendwoher, ich war ihm vor sechs Jahren weit unterlegen. Er kombiniert Gefühl und Technik wirklich meisterlich ...«

»Schön für ihn.«

Leo biss sich auf die Lippen. Er ahnte, dass er vor dem Eröffnungsauftritt kein vernünftiges Gespräch mehr mit Kasimir würde führen können und hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er ihm in dieser Situation beistehen sollte. Am liebsten hätte er ihm verraten, dass seine Schwester in der letzten Bankreihe saß und die ganze Zeit über fiebrig zu ihnen herüberstarrte, doch er wollte seine Gefühlswelt nicht noch stärker durcheinanderwirbeln. Wahrscheinlich beruhigte es ihn deshalb umso mehr, als er endlich Francescas Silhouette in der Tür auftauchen sah. Wenngleich ihr Gesichtsausdruck einer aufgebrachten Bulldogge ähnelte. Als sie ihn entdeckte, stapfte sie auf ihn zu und packte Kasimir forsch an den Schultern.

»Du! Was fällt dir ein, so spät hier aufzukreuzen? Deinetwegen hat sich alles verzögert.«

Als er keine Reaktion zeigte, wandte sie sich stürmisch an Leo. »Dieser Mistkerl!«

»Beruhig' dich mal. Kasimir ist doch noch rechtzeitig ...«

»Ich rede von Marco! Er kommt nicht her, ist das zu fassen? Wir haben den Termin bereits vor zwei Monaten besprochen, und jetzt behauptet er plötzlich, schon längerfristig verplant zu sein! Das fällt ihm eine Stunde vor dem Auftritt ein? Ich dachte, er müsse jeden Augenblick ankommen, dieser elende ...«

Sie spulte diverse Beschimpfungen herunter und fixierte dabei zornig ihr Smartphone.

Leo konnte sich nicht helfen. Für ihn waren ihre Flüche Musik in den Ohren.

Ein Klingeln ertönte und ließ Frannas Raserei abrupt verstummen, der Fokus aller Anwesenden verdichtete sich auf dem klassischen schwarzen Bechstein-Flügel in der Mitte des Saales. Er leistete der Zitadelle seit ihrer Gründung hervorragende Dienste, Leo liebte seinen Klang und konnte es kaum erwarten, ›Volere la luna‹ ein weiteres Mal darauf zu interpretieren. Was ihn jedoch in noch größere Vorfreude versetzte, war die Aussicht, nach so langer Zeit wieder ›All Eyes On Me‹ von seinem Schöpfer darauf vorgespielt zu bekommen. Auch wenn Kasimir das Instrument musterte, als wäre es seine persönliche Guillotine.

»Liebe Kandidaten und Gäste, wir wollen anfangen!«, rief Frau Dr. Helbig mit der Klingel in der Hand. »Wie bereits angekündigt, möchten wir nicht gemäß der aufsteigenden Jahreszahlen, sondern in alphabetischer Reihenfolge der Titel vorgehen. Der Wettbewerb wird mit dem Siegerstück aus dem Jahr 2013, ›All Eyes On Me‹, von Kasimir Hasitzky eröffnet. Kasimir, komm bitte nach vorn. Die Bühne gehört dir.«

Mit diesen Worten trat sie vom Podium und setzte sich zu den übrigen Jurymitgliedern in die erste Reihe. Während alle ihre Plätze in den Sitzreihen einnahmen, warf Leo noch einen flüchtigen Blick zu Cecilie, die mühevoll hinter den vielen Personen beide Daumen in die Höhe streckte. Leo schmunzelte, dann wandte er sich Kasimir zu.

Sein Gegenüber hatte den Blick gesenkt, und Leo bemerkte, wie seine Hände wieder zu zittern begannen. Er musste nicht lange überlegen. Er griff nach ihnen und begegnete Kasimirs verunsichertem Blick mit all der Zuversicht, die er aufbringen konnte.

»Das ist dein Moment«, wisperte er. »Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zuhören. Ich will, dass du an eine Sache denkst, wenn du dort sitzt. Eine einzige Sache ...«

Er trat so nah an ihn heran, dass kaum mehr ein Notenblatt zwischen ihnen Platz hatte. Kasimirs Herz schlug so schnell, dass Leo selbst die Nervosität in sich aufsteigen spürte. Ihre Wangen berührten sich beinahe, als er ihm ins Ohr flüsterte.

»Spiel dein Lied so, wie du es geschrieben hast. Sorge dafür, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.«

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt