{79} Easy

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Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Seine Finger zitterten, obwohl Dawid sie in seiner Hand fest zusammendrückte. Während sie sich gemeinsam verbeugt hatten, war ihm sogar ein wenig schwindelig geworden. Dieses Stück hatte ihm weitaus mehr abverlangt als seine drei klassischen Vorgänger. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er in ein Mikrofon geschrien. Ihm wurde beim bloßen Gedanken daran übel, und er war froh, dass Dawid die Führung übernahm, als sie schließlich die Bühne verließen.

»Unfassbar, was für ein Riesenschisser du bist«, wisperte er ihm vergnügt ins Ohr.

Kasimir war jedoch viel zu aufgewühlt, um etwas Schlagfertiges zu erwidern. Zudem lag er mit seiner Behauptung vollkommen richtig. Er hatte solche Angst vor diesem Moment gehabt, dass er beinahe aufgehört hätte zu spielen.

Er massierte nervös seine Hände, während er Cecilie und Thomas passierte. Seine Schwester zeigte ihm beide Daumen nach oben, die Begeisterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Blieb nur zu hoffen, dass seine Aktion auch Leonhard überzeugt hatte. Das offene Lächeln, mit welchem er ihn an seinem Platz empfing, ließ seine Gedanken jedenfalls Purzelbäume schlagen.

»War das Beweis genug für dich, dass ich diesen Wettstreit ernstnehme?«, sagte er noch immer etwas zittrig.

»Das hast du mir laut und deutlich zu verstehen gegeben.«

Leonhards verschlagenes Grinsen ließ Kasimirs Aufregung ein wenig abflauen. Er sah ihn nicht mehr an, als wäre er der verlogenste Mensch auf Erden. Unfassbar, dass ihn ein einziger falscher Blick dieses Jungen so stark ins Wanken bringen konnte, dass er all seine Hemmungen über Bord warf und improvisierte, um wieder in seiner Gunst zu steigen. Vielleicht sollte er sich demnächst in Therapie begeben. So richtig normal fühlte er sich jedenfalls nicht mehr.

»Schön, dass die Zwistigkeiten ausgeräumt sind«, meinte Francesca, während sie einen deutlichen Abstand zu Leonhard hielt. »Zum Glück muss ich mir diesen Terror nur noch eine Runde lang anhören. Ihr seid beide unfassbar schlechte Gewinner, wisst ihr das?«

»Am Ende braucht sich zum Glück nur einer von uns so zu schimpfen«, erwiderte Leonhard und lachte, als Francesca die Augen verdrehte und Paula neben ihr verlegen schmunzelte. Irgendetwas an seiner Fröhlichkeit gefiel Kasimir nicht. Er bildete sich ein, Leonhards ehrliches Lachen von seiner Maske unterscheiden zu können.

Das war es mit Sicherheit nicht.

»Ihr werdet gleich beide geschlossen auf die Bühne gehen, wenn Frau Dr. Helbig die Ansprache für euren letzten Auftritt hält. Leo wird als Erster spielen. Kasimir, du hältst dich im Hintergrund, bleibst aber auf der Bühne. Nach dem Schlussakkord von ›Il solitario‹ wird sofort gewechselt. Kapiert?«

Kasimir nickte und sah hinüber zum Altar. Ihm war bereits vorhin aufgefallen, dass ein zusätzlicher Stuhl neben dem Steinway platziert worden war. Offenbar wollte man das Finale möglichst dramatisch gestalten und die Spannung zwischen den Auftritten durch den Wechsel nicht abreißen lassen.

»Cool, dann kann ich Nahaufnahmen von Kasi am Flügel machen und festhalten, wie er versagt«, sagte Leonhard und grinste ihn an. »Instagram wird ausrasten.«

»Denk nicht mal dran«, zischte Kasimir. Es wunderte ihn, dass Leonhard vor diesem wichtigen Moment zu Scherzen aufgelegt war. Seine Provokationen hatten bislang immer dazu geführt, dass Kasimir in seinen Vorspielen stärker aufgetreten war. Wenn Leonhard wieder diese Strategie verfolgte, brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Allerdings wurde er das Gefühl nicht los, dass hinter seiner aufgesetzten Leichtigkeit etwas anderes steckte.

»Seid ihr bereit?«, meinte Francesca und sah jedem von ihnen in die Augen. »Dann informiere ich die Stiftungsvorsitzende. Möge der Bessere gewinnen ... oder wenigstens irgendeiner.«


🎵🎵🎵


Es war soweit. Kasimir fand sich in der Mitte des Plateaus wieder und hatte den gesamten Saal im Blick. Die Scheinwerfer waren grell und heiß auf der Haut, zudem fühlte er sich, als wäre sein Anzug von seinem eigenen Angstschweiß über den Abend hinweg eingelaufen. Dass Leonhard auf dem Weg zur Bühne seine Hand ergriffen und sie seither nicht losgelassen hatte, trug nicht zur Senkung seines Pulses bei. Auch wenn der Kontakt ihm wenigstens oberflächlich eine Ruhe zugestand, die ihn nicht im Fokus aller Blicke zittern ließ wie ein Kaninchen in der Habichtvoliere.

»Meine sehr geehrten Damen und Herren«, begann die Stiftungsvorsitzende vor ihnen so schwungvoll, dass Kasimir ein dürrer Schauer durch den Körper zuckte. »Seit nunmehr zwanzig Valentinstagen küren wir Jahr für Jahr die besten Nachwuchskomponisten des Landes. Achtzehn Mädchen und Jungen im Alter von zehn bis zwanzig Jahren haben wir seitdem diesen Titel verleihen können. Diese achtzehn jungen Menschen sind vor zwei Monaten zusammengekommen, um in einem Jubiläumswettbewerb gegeneinander anzutreten. Über vier Runden hinweg hat uns jeder einzelne von ihnen mit ebenso wohlklingenden wie anspruchsvollen Darbietungen begeistert. Ich denke, es ist an der Zeit, all diesen Ausnahmetalenten für ihr Engagement für die klassische Musik zu danken und ...«

Der Beifall erhob sich, noch ehe sie ihre Worte zu Ende gesprochen hatte. Und er war lauter als je zuvor.

Kasimir presste seine Hand fester zusammen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Leonhard verstohlen grinste, und verminderte den Druck ein wenig. Er spürte, wie die Aufregung unablässig durch seine Adern floss und ihn mit einer Extraportion Adrenalin versorgte.

Verdammt nochmal. Er stand wirklich an diesem Punkt. Das war seine Revanche.

»Leonhard Valentin und Kasimir Hasenick haben unsere Jury über alle Runden hinweg am Nachdrücklichsten überzeugt. Nicht allein ihre Auftritte haben uns beeindruckt, auch ihr freundschaftliches Miteinander zeugt von einem beispiellos fairen Verhalten in einem hochdotierten Wettstreit wie diesem. Es lässt uns erkennen, dass ein gesundes Konkurrenzdenken Bande knüpfen kann, die über Ehrgeiz und Egoismus hinausgehen. Für dieses wertvolle Zeichen im Umgang miteinander möchte ich euch persönlich danken, ihr zwei.«

Sie drehte sich um und reichte jedem von ihnen die Hand, wobei Kasimir angesichts seiner feuchten Handflächen Beklemmungen bekam. Der fast großmütterliche Ausdruck, den Frau Dr. Helbig ihm dabei entgegenbrachte, minderte seine Nervosität jedoch ein wenig herab.

»Nun möchte ich unsere beiden Finalisten nicht länger hinhalten. Sie werden Ihnen gleich mit ihren klangvollen Worten näherbringen, welche Gefühle ihren Weg durch die Harmonica begleitet haben. Auch wir, die Jury und ich, sind sehr gespannt auf die eigens für diesen Anlass komponierten Stücke, denn wir kennen bislang nur die ersten zwanzig Takte von ›Il solitario‹ und ›Easy‹ ...«

Als Leonhard kaum merklich kicherte, sah Kasimir zur Seite.

»Was ist?«

»Nichts. Hätte bloß nicht gedacht, dass du meinen Vorschlag annimmst. Ich meine, das war eigentlich ein Witz. Der Titel ist total bescheuert für so ein Monster von Komposition.«

Kasimir verzog die Lippen und wandte sich wieder nach vorn.

»Er kommt von dir, natürlich ist er bescheuert. Aber mir ist auch nichts Besseres eingefallen. Nächstes Mal bitte ich dich nicht mehr um Hilfe ...«

»Jetzt werd' nicht zickig«, meinte Leonhard und tippte ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. »Ich freu mich, dass du so hohe Stücke auf meine Meinung hältst. Bin nur überrascht.«

»Ich bin auch manchmal für Überraschungen gut.«

»Haha, stimmt. Und im Gegensatz zu mir zum Glück nur für positive.«

Kasimir musterte ihn kurz unverständig, bekam aber keine Gelegenheit mehr nachzufragen. Die Stiftungsvorsitzende setzte zum finalen Teil ihrer Rede an.

»Ich wünsche Ihnen und unseren Pianisten viel Freude mit den letzten beiden Kompositionen des heutigen Abends. Wir werden unsere Entscheidung unverzüglich nach Kasimirs Auftritt verkünden. Und nun, Leonhard ... Darf ich bitten?«

Sie deutete lächelnd auf den samtbezogenen Hocker vor dem Flügel. Kasimir spürte, wie Leonhard seine Hand ein letztes Mal schwach drückte, ehe er sie losließ und ihm schmunzelnd das Haar zerwühlte.

»Spinnst du?«, zischte Kasimir und schob ihn von sich weg. Leonhards Grinsen traf ihn daraufhin verschlagen wie immer. Nur seine Worte passten nicht.

»Verzeih mir, ja?«

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt