{12} Andare in bestia, pt. 5

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Als Leo sich zwischen den engstehenden Tischen hindurchgekämpft hatte, erwartete ihn Francesca bereits mit offenen Armen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Che bello!«, trällerte sie und umschloss ihn mit einem solch festen Druck, dass ihm die Luft wegblieb. »Zu schade, dass du nie die Stücke spielst, die ich mir von dir wünsche.«

»Es kam so über mich ...«, japste er, woraufhin sie ihn aus ihrer Umklammerung erlöste. »Deinen Favoriten kann ich mir ja später noch genehmigen. Für dieses hier musste ich aber stocknüchtern sein, sonst hätte es nicht funktioniert.«

»Dann hättest du es halt gelassen«, erwiderte sie und drückte ihn auf seinen Stuhl, ehe sie nach der Kellnerin Ausschau hielt, die ihr noch immer nicht die Getränke gebracht hatte. »Jedes Mal ärgerst du mich mit dieser Eintagsfliege.«

»Es ist genial.«

»Aber nur, wenn du es spielst. Als dieser Tölpel damals die Klaviatur damit gequält hat, klang es nicht annähernd so gefühlvoll ... ach, da kommt er ja.«

»Wer?«

»Der Kellner mit meinem wohlverdienten Roches Noire.«

Daraufhin setzte sie sich zufrieden und widmete sich wieder Leo. Allerdings fiel es ihm in diesem Augenblick trotz ihres bezaubernden Lächelns unnatürlich schwer, sich auf sie zu konzentrieren. Und der Grund dafür näherte sich zaghaften Schrittes ihrem Platz.

»Ach übrigens«, wisperte Leo und wandte ihr wieder den Blick zu. »Was genau hat dich an diesem Typen damals eigentlich so gestört? Und an seinem Lied? Warum, glaubst du, hat er nicht gegen mich gewonnen?«

»Was soll die Frage?«, entgegnete sie und würdigte den Kellner, der soeben an den Tisch getreten war, keines Blickes. »Ganz einfach: er hat keinerlei Emotionen in seine Interpretation gelegt.«

Sie nahm das Weinglas entgegen und wartete, bis auch Leo seine Getränke vorgesetzt bekommen hatte, ehe sie fortfuhr: »Zunächst einmal kam er an wie ein gerupftes Huhn, zerzaust und finster gekleidet, sah noch schlimmer aus als dein vor Geschmacklosigkeit triefendes Kostüm. Dann diese Ausstrahlung. Er hat im Vorfeld mit keinem geredet, oder? Ehrlich gesagt kann ich mich nicht einmal an sein Gesicht erinnern, nur dass er relativ mager war und farblos wirkte. Na ja, und zum Spiel brauche ich wohl kaum etwas zu sagen. Charakterlos, fad ... absolut gewöhnlich, außer dass er es fehlerfrei heruntergeklimpert hat. Seine Präsentation hat keinerlei Gefühle in mir geweckt. Wahrscheinlich hätte ich es sofort vergessen, wenn du nicht wie ein Wahnsinniger daran hängen würdest. Die einzige Leistung, die dieser Amateur vollbracht hat, war wohl, diesen Schund sauber zu Papier zu bringen.«

Leo senkte den Blick auf sein Gedeck. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass die Fingerspitzen des Kellners zitterten, eine der Hände hatte er zur Faust geballt.

»Danke, das wäre alles«, meinte Francesca beiläufig und versuchte, ihn mit einer Handbewegung fortzuscheuchen, ehe sie sich wieder an Leo wandte. »Sag schon, wieso bist du so besessen von diesem Lied? Ich persönlich kann mich nicht einmal an den Namen dieses Pseudokomponisten erinnern, du etwa?«

»Nein«, erwiderte Leo und ergriff den Stiel seines Weinglases, um es zum Anstoßen zu erheben. »Na dann, auf den Niemand?«

Jetzt war es soweit.

Leo konnte nicht schnell genug reagieren. Der Kellner hatte ihm das Glas bereits aus der Hand geschnappt und hielt es so fest umklammert, dass er befürchtete, es könnte unter dem Druck zerbersten. Er rechnete damit, dass der Kerl ihn gleich aus voller Kehle anbrüllen würde, aber es war bloß seine Unterlippe, die vor Anspannung bebte. Erst als Leo diesen Anblick mit einem Lächeln bedachte, bekam er zu spüren, was es bedeutete, eine wildgewordene Bestie zu reizen.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt