{81} All Eyes On You

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Als Leo aus dem Bus stieg, schlug ihm die Spätsommerhitze entgegen. Die Fahrt bis vor die Tür der Tierarztpraxis hatte ihn die Auswirkungen des Klimawandels ausblenden lassen, umso erbarmungsloser versengte ihm die Sonne nun das Gesicht. Er ließ sich im Schatten der Haltestelle nieder, hob Fivers Transportkäfig neben sich auf die Bank und spähte durch die Gitterstäbe. Sein Kaninchen mümmelte schief geschnittene Gurkenscheiben und schien sich nicht daran zu stören, in einem Freiluftgrill zu hocken.

»Muss warm sein in dem Pelz«, murmelte Leo und sah zur gegenüberliegenden Straßenseite. Er war eine Viertelstunde früher von zuhause losgefahren und hatte alle Umstiege problemlos gemeistert, demnach blieben ihm einige Minuten bis zum Untersuchungstermin. Zwar sehnte er sich nicht unbedingt nach der stickigen Raumluft im Wartezimmer, aber das erschien ihm immer noch besser als die Perspektive, Fiver in der Mittagssonne verkohlen zu lassen. Also ergriff er die Box nach einer kurzen Verschnaufpause und lief über die Straße. Er mochte gar nicht daran denken, dass er bereits in einer Woche über Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Gedichtanalysen brüten musste. Zum Glück war es sein letztes Schuljahr, dann lag auch dieser Kampf endlich hinter ihm. Was danach kam, wusste er noch nicht, aber das war nicht schlimm. Manchmal genügte der Anschlag einer Taste, um sein Leben von Grund auf zu ändern. Das hatte er erst kürzlich eindrucksvoll bewiesen bekommen.

Als er die Treppenstufen zur Eingangstür der Praxis hinauftappte, kam ihm der Zwischenfall vor zwei Jahren in den Sinn. Wäre er Kasimir Hasenick am Valentinstag nicht an diesem Ort begegnet, hätten sich ihre Wege nicht auf so entscheidende Weise überschnitten. Kasimir hätte ihn weiterhin auf den Tod verabscheut und wäre niemals mit sich ins Reine gekommen, während Leo wahrscheinlich bis an sein Ende damit gehadert hätte, seinem Idol niemals gesagt zu haben, wie sehr er es schätzte. Denn das war er all die Zeit gewesen, obwohl er weder seinen Namen noch ihn als Menschen gekannt hatte.

Die Musik in seinen Ohren.

Leo ergriff die Klinke. Irgendwie konnte er sich nicht der Hoffnung erwehren, dass Kasimir in genau diesem Moment auf der anderen Seite der Tür wartete. Dann könnte er sich anständig von ihm verabschieden, ehe sie sich auf unbestimmte Zeit nicht mehr über den Weg liefen.

Er atmete tief durch. Schob die Tür nach innen auf. Und fand sich vor einem leeren Gang wieder.

Wäre auch zu schön gewesen.

Er seufzte und hievte den sperrigen Käfig durch den Rahmen. Hoffentlich nahm der Gesundheitscheck nicht so viel Zeit in Anspruch, dann könnte er noch ein, zwei Dinge in der Innenstadt erledigen, ehe seine Feriennachhilfelehrerin an der Haustür klingelte. Er musste sich allmählich um Miras Geburtstagsgeschenk kümmern. Vielleicht pinke Stutzen oder Schuhe mit Metallstollen, damit sie die Jungs im Verein das Fürchten lehren konnte. Zwischendurch ein Eis oder einen Softdrink ...

»Leo ...?«

Er hielt inne und drehte sich um. Am Absatz der Treppen war jemand stehengeblieben und blickte zu ihm auf. Leos Herzfrequenz stieg sprunghaft an, und er wusste auf die Schnelle nicht, was er erwidern sollte. Bis sich Kasimir aus seiner Starre löste und etwas holprig die Stufen hinauftrat.

»Was machst du denn hier?«, wisperte Leo und stellte die Transportbox vorsichtig auf den Boden. »Wolltest du nicht zu den Einführungsveranstaltungen in Berlin sein?«

»Ja ... nein«, erwiderte Kasimir und tippte mit seiner Schuhspitze gegen die Stufe. »Nächste Woche. Thomas hält mich bis zum letzten Moment fest, damit ich beim Umzug ins neue Studio helfe ... bin grad auf dem Weg dorthin.«

»Ach, stimmt. Richtig cool, dass das mit der Pacht geklappt hat. Ist bestimmt nicht leicht für ihn, so eine Expansion alleine zu stemmen.«

»Cecilie unterstützt ihn mit der Bürokratie. Bei der Hitze ist sie froh, vor einem Ventilator am Schreibtisch zu sitzen.«

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt