»Mensch, das ist ja richtig ordentlich hier. Letztes Mal lag alles voller Notenblätter.«
»Sprich leiser, mein Schwager pennt.«
Kasimir hatte den Schock über den Überraschungsbesuch noch nicht verdaut, konnte aber immerhin versuchen, Schlimmeres zu vermeiden. Als wäre es nicht beunruhigend genug, dass Leonhard unangekündigt frühmorgens vor seiner Tür auftauchte, trug er auch noch eine Kiste bei sich, die verdächtig nach einem Tiertransportkäfig aussah. Kasimir hatte gewusst, dass dieser Zeitpunkt eines Tages kommen würde, allerdings traf ihn die Erkenntnis, Hazel seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben zu müssen, relativ unvorbereitet.
»Oh, alles klar. Sorry.«
»Wenigstens hast du nicht sturmgeklingelt wie beim letzten Mal.«
»Hat zu lange gedauert, das Namensschildchen wiederzufinden«, sagte Leonhard und folgte Kasimir auf leisen Sohlen in die Küche.
»Willst du was trinken? Tee?«, fragte er und biss sich auf die Lippen, als Leonhard erfreut nickte. Hoffentlich ging er nicht davon aus, ihn belagern zu können, bis Cecilie wieder nach Hause kam.
»Müsstest du nicht in der Schule sein?«
Die Frage fühlte sich seltsam an. Kasimir hatte mit siebzehn Jahren das Abitur gemacht. Sicher, er war bereits mit fünf eingeschult worden, trotzdem waren die ältesten Schüler seiner Abschlussklasse allerhöchstens neunzehn gewesen, so alt wie Leonhard jetzt. Mit dem Unterschied, dass er angeblich noch über ein Jahr vor sich hatte. Irgendetwas war faul an der Geschichte, allerdings hatte Kasimir bislang nicht die Impertinenz besessen, ihn danach zu fragen.
»Bin krankgemeldet«, erwiderte Leonhard und wies stolz auf das Tuch um seinen Hals. »Allerdings nur einen Tag. Der Wettbewerbsentwurf muss fertig werden.«
»Du schwänzt«, korrigierte Kasimir und goss dennoch eine Kanne Kamillentee auf.
»Klingt nicht wirklich elegant, aber ja, kann man so stehenlassen. Ich hab übrigens ein Mitbringsel dabei. Zur Entschädigung für die Umstände mit meiner Sauklaue.«
Er zog eine schmale, rechteckige Verpackung aus seiner Manteltasche und reichte sie Kasimir.
»Antiallergika?«
»Ja, ein kleiner Vorrat. Damit du nicht wieder in so 'ne blöde Situation kommst wie letztens. Außerdem wirst du heute die doppelte Menge brauchen.«
Kasimir verzichtete auf eine Nachfrage. Er hatte sich schon vor einer Minute gewundert, ob dieses unscheinbare Rascheln aus dem Transportkäfig gekommen war; Hazel faulenzte jedenfalls bewegungslos vor ihrem Maiskräcker.
Leonhard sah sich einen Moment lang an seinem unverständigen Blick satt, ehe er sich vor die Kiste hockte und das Gitter öffnete. Es dauerte keine zwei Sekunden, ehe eine kleine rosa Stupsnase aus dem Stroh hervorlugte.
»Darf ich vorstellen?«, sagte er und griff beherzt ins Innere des Käfigs. Zum Vorschein kam eine schneeweiße, samtig anmutende Fellwurst mit Ohren, die wesentlich eindrucksvoller wirkten als Hazels. »Das ist Fiver, mein Unruhestifter.«
Kasimir betrachtete das weiße Zwergkaninchen einen Augenblick lang unschlüssig, dann wanderte sein Fokus zum sichtlich stolzen Besitzer.
»Fiver?«
»Japp. Nachdem ich zwei Jahre erfolglos versucht hatte, Hazel wiederzufinden, musste einfach Trost her. Er hat zwar ein völlig anderes Temperament, ist aber ein feines Kerlchen. Willst du ihn mal halten?«
»Nicht wirklich«, sagte Kasimir, konnte sich allerdings nicht weigern, als Leonhard ihm das Kaninchen praktisch in die Arme drückte. Fiver hatte viel weicheres Fell als Hazel und war bei weitem nicht so lethargisch.
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All Eyes On Me [1]
Roman d'amour»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...