Kasimir konnte nicht einschätzen, ob der Applaus stärker oder schwächer ausfiel als beim letzten Mal. Er ließ ihn einfach über sich ergehen, erhob sich träge und verbeugte sich gerade so tief, wie es seine gepeinigten Innereien zuließen. Er fühlte sich vollkommen ausgelaugt und war froh, gleich ohne großes Aufsehen in seine Sitzreihe zurückkehren zu dürfen.
Seltsamerweise ebbte der Beifall nicht so zügig ab wie zuletzt. Wenn er sich nicht täuschte, war sogar jemand aufgestanden. Nein, zwei ... drei Personen aus den Zuschauerreihen boten ihm Standing Ovations. Wofür? Er fühlte sich hundselend und hatte unter diesem Gemütseinfluss auch sein Lied gespielt. Hatte es derart bemitleidenswert geklungen?
Er schleppte sich in die dritte Reihe und ignorierte sicher gut gemeinte Kommentare wie »wow« und »Wahnsinn«, bis er sich ermattet neben Leonhard niederlassen konnte. Das einzige, das wirklich durch seinen wachkomatösen Zustand zu ihm vordrang, war Leonhards gefesselter, eigenartig ungläubiger Blick.
»Was?«, wisperte er abgespannt. »War's so schlecht?«
»Bitte? Nein, überhaupt nicht. Ich meine ... was zur Hölle hast du da gerade gemacht?«
Kasimir wusste nicht, was er von ihm hören wollte und hatte auch keine Kraft mehr, sich darüber Gedanken zu machen.
»Was weiß ich. Ich hab einfach unter diesen üblen Schmerzen gespielt ... Hat man bestimmt gemerkt.«
»Und wie man das gemerkt hat. Ich hatte die ganze Zeit Angst, du klappst gleich zusammen. Du glaubst nicht, wie authentisch das gewirkt hat.«
Nun kam Kasimir nicht mehr umhin, seinen Blick angefressen zu erwidern.
»Das war authentisch.«
»Brauchst du mir nicht zu sagen, aber die Jury ist völlig ahnungslos. Die müssen den Eindruck haben, dass du bei deiner Interpretation total mitgelitten hast.«
Kasimir konnte sich keinen Reim darauf machen, was er ihm mitzuteilen versuchte. Er schüttelte verdrießlich den Kopf.
»Komm zum Punkt. War es gut oder schlecht?«
Leonhard beugte sich zu ihm hinüber, um ihm ins Ohr zu flüstern, und er vergaß kurzzeitig seine miese Laune.
»Es war absolut perfekt.«
Kasimirs Atem wurde flacher. Nicht einmal sein angeschlagener Gesundheitszustand konnte sein Herz davon abhalten, schneller zu arbeiten, wenn Leonhard ihm derart nahe war und ihm zu allem Überfluss solche Worte zuwisperte.
Als ein genervtes Zischen aus der hinteren Reihe zu ihnen drang, lehnte sich Leonhard ertappt zurück und grinste, dann widmete er sich Paula, die als nächste ihr Stück vortragen würde.
Kasimirs Organismus war viel zu retardiert, als dass er weitere Reize hätte verarbeiten können. Er nahm gar nicht aktiv wahr, wie ihm allmählich die Augen zufielen. So falsch hatte Leonhard mit seiner Einschätzung wahrscheinlich nicht gelegen, er hatte wirklich seine letzten Kräfte mobilisiert und auf dem Podium alles gegeben, wozu er imstande war.
Ein Adagio, dachte er, während ihm die Realität langsam entschwand. Ein lächerliches Adagio hatte ihm den Garaus gemacht.
🎵🎵🎵
»... dieser Idiot sich zum Teufel scheren, wenn er ernsthaft denkt, dass ich ihm nach der Geschichte noch einmal verzeihe.«
Von irgendwoher weckte weibliches Gezeter Kasimir unsanft aus dem Schlaf. Es dauerte einen Moment, bis er die Lider aufschlagen und seinen Standort lokalisieren konnte. Er lag längs über drei Stühle ausgestreckt in seiner Sitzreihe; ganz in der Nähe erkannte er Francesca, die wild gestikulierte und Leonhard offenbar als Stressventil missbrauchte. Über sich entdeckte er die fein ornamentierte Decke des Saales, in dem sie den Wettbewerb abhielten, und durch die Stuhllehnen hindurch erkannte er den Bechstein-Flügel. Er war also noch hier. Und die Entscheidung? War sie schon gefallen? War er rausgeflogen?
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All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...