›Volere la luna‹ war die erste Komposition, die Leo eigenständig verfasst hatte. Eine klare Melodie, schnörkellos und ohne große Raffinesse, die sich nach einem schüchtern anmutenden Einstieg ins Unendliche steigerte.
Von grau zu ultraviolett, lento zu presto.
Er hatte sie sich vorgestellt wie das fade Licht einer Taschenlampe, welches man dem Himmel entgegen richtete. Es durchdrang die trübe Scheibe, entfloh in die Finsternis der Nacht und wanderte, unsichtbar für jedes Lebewesen, hin zu den Sternen. Es durchschnitt die Dunkelheit in Lichtgeschwindigkeit und niemand konnte genau sagen, ob es sein unbekanntes Ziel jemals erreichte.
Genau diese Wirkung sollte Leos Lied in den Köpfen seiner Zuhörer erzielen. Sie sollten versuchen, dem lapidar erscheinenden Klangmuster zu folgen, bis sie sich irgendwann darin verlören. Kein Takt glich dem anderen, keine Repetition bot einen Anhaltspunkt, wie es enden könnte. Leo führte jeden mit diesem Stück in die Irre und wanderte selbst auf dem deutlichsten Pfad, wissend wie ein Magier, der seinem Publikum die Sterne vom Himmel holte. Das hatte er sich von seinem Vorbild abgeschaut.
Wie gewohnt veränderte er den Schluss ein wenig, ehe seine Finger auf der Klaviatur ruhten. Er war sich sicher, dass er mit dieser Komposition die erste Runde überstehen würde, doch die Entscheidung lag letztlich im Ermessen der Jury.
Da weder Applaus ertönte noch zustimmendes Gemurmel seiner zwei wichtigsten Kritiker die kleine Kapelle erfüllte, vervielfachte sich sein Pulsschlag bereits, bevor er sich nach ihnen umgewandt hatte.
»An sich ganz nett«, sagte Francesca und kritzelte ein paar Zeilen in ihr Notizbuch, ehe sie ihren Blick ihm widmete. »Es klingt nicht alltäglich, trotzdem fehlt mir der tiefere Sinn dahinter. Mir ist bis heute schleierhaft, wie du mit diesem Durcheinander gewinnen konntest.«
Leo schluckte. Natürlich wusste er, dass er seinen anderen Siegertitel in der ersten Runde vortragen müsste, wenn es nach Francesca ging. Sie hatte ihm bei der Niederschrift seines ›Rondo alla danese‹ damals maßgeblich geholfen; es wäre mit Sicherheit ein Freifahrtschein im Wettbewerb. Trotzdem konnte er sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, ›Volere la luna‹ aus dem Rennen zu werfen. Vermutlich hatte er deshalb darauf bestanden, auch Kasimir zwei Tage vor der Eröffnungsrunde des Harmonica-Jubiläums zur Generalprobe in die Kapelle einzuladen. Er war neugierig, welches der beiden Stücke er bevorzugen würde. Allerdings hatte Leo bereits bei ihrem Aufeinandertreffen am Friedhofstor bemerkt, dass er seltsam abwesend wirkte. Auch jetzt, obwohl er all seine künstlerische Klasse in die Interpretation des Liedes hineingelegt hatte, saß Kasimir unberührt wie Francesca auf seinem Stuhl – in vier Metern Abstand zu ihr – und zeigte keine mimische Regung.
»Das Rondo ist schwungvoller und hat eine bessere Dynamik. Außerdem kann ich dich in diesem Fall auf der Violine begleiten, das nähme dir die Nervosität und würde für eine ergänzende Harmonie sorgen. Ich denke, das wird die Juroren um einiges mehr beeindrucken als eine schnöde Ego-Show-Etüde.«
Sie wandte ihren Blick provokativ in Kasimirs Richtung, der ihn nicht minder feindselig erwiderte. Leo war sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, zwei personifizierte Kontrapole in einen Raum zu sperren.
»Mir gefällt die stretto-Komponente bei ›Volere‹«, sagte er, um wenigstens einen Pluspunkt an seinem heimlichen Favoriten hervorzuheben. »Was meinst du, Hasitzky? Welches Stück würdest du nehmen?«
Als Kasimir gleichgültig mit den Schultern zuckte, musste Leo einsehen, dass er sich wohl auf Francescas Einschätzung würde verlassen müssen. Er versuchte, seine Enttäuschung mit einem trostlosen Schmunzeln zu übertünchen, allerdings hatte er seine Gefühlswelt nie gut vor Francesca verschleiern können. Auch heute nicht. Beim Anblick seiner Reaktion fing sie sofort Feuer.
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All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...