Es donnerte in der Ferne. Das Licht der Schaufenster verblasste in den Dampfschwaden, die der Asphalt entlassen hatte, ehe er in den Pfützen ertrunken war. Als wäre es sein letzter Atemzug gewesen, das Schlussstück einer Sinfonie aus quietschenden Reifen und schleifenden Bremsen. Nun war alles still auf den Straßen und die Geräuschkulisse der Naturgewalt jenseits der Stadt übertönte sein Ableben.
Kasimir lehnte an der Fassade des Restaurants ›La Prélude‹ im Schutze des kleinen französischen Vordachs. Sein Blick verlor sich im Nebel, allerdings konnte er nicht unterscheiden, ob er aus den verschmutzten Poren der Fahrbahn trat oder aus seiner Lunge.
Er erinnerte sich nicht genau, wann er mit dem Rauchen angefangen hatte. Vor drei oder vier Jahren. Bis dahin hatte er den Gestank ausgebrannter Atemwege verabscheut und einen weiten Bogen um jeden Raucher gemacht. Aber letztlich lag ihm das Suchtpotenzial in den Genen. Sein Vater sei Kettenraucher gewesen, hatte Cecilie ihm an den Kopf geworfen, als ihr aufgefallen war, dass er damit angefangen hatte. Vielleicht war es ihre Absicht gewesen, Kasimir zu verletzen und ihn davon abzubringen, sich weiter zu vergiften. Aber wie hätte ihr das gelingen sollen? Er hasste und brauchte es zugleich; fühlte sich besser damit, sich einer Sache hinzugeben, die sein Erzeuger ebenfalls zu tun gepflegt hatte. Dann akklimatisierte sich sein Verstand mit dieser verdreckten Hülle und er war nicht mehr das Kaninchen im Fell eines pestkranken Wolfes. Für einen kostbaren Moment fühlte er sich innerlich genauso abscheulich wie dieses Monster.
»Willst du deine gesamte Pausenzeit verqualmen?«
Der Klang dieser Stimme wirkte mittlerweile so vertraut, dass Kasimir sich erwartungslos umwandte. Über zwei Stunden hinweg, in welchen er nichts vorangebracht hatte, als drei Teller auf dem feinen Parkettboden des Restaurants zerschellen zu lassen, war sie ihm allerdings viel schärfer begegnet. Nun wirkte sie wie die eines Spatzes, der tschilpte, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Das lange, glatte blonde Haar legte sich ebenmäßig über die schmalen Schultern des Mädchens und ihr Blick touchierte seine Gestalt beinahe mitfühlend.
»Kann ich mir eine schnorren?«, fragte Ella mit einem Schmunzeln auf den Lippen und lehnte sich neben ihm gegen die Wand. Als er ihr wortlos eine Zigarette und das Feuerzeug reichte, bemerkte Kasimir, wie intensiv sie seine Statur musterte.
»Nicht so gut gelaufen bisher.«
»Besser als erwartet«, erwiderte er und blickte hinunter auf den Bordstein. In einer der Pfützen spiegelte sich das rötliche Glimmen seines Zigarettenstummels.
»Celi meinte schon, dass du noch nie gekellnert hast. Aber du scheinst mir echt zwei linke Hände zu haben.«
»Ich bin Linkshänder.«
»Oh, na dann zwei rechte«, sagte Ella amüsiert und schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du spielst Klavier? Wie funktioniert das, wenn man derart ungeschickt ist?«
Sie sah ihn an, doch er widmete sich weiterhin der Fußwegkante. Es war nicht seine Art, Menschen anzustarren. Flügel und Pianos, ja. Sein Blick hatte sich bereits an dem schneeweiß glänzenden Steinway festgesetzt, noch ehe er Cecilies Arbeitsstelle wirklich betreten hatte. Kasimir hatte kein Wort hervorgebracht, woraufhin ihn der Restaurantbetreiber beinahe des Hauses verwiesen hätte. Erst Ella, die offenbar ein Gespür für autistische Verhaltensweisen besaß, hatte die Quelle seiner Faszination bemerkt und ihn als Cecilies Bruder vorgestellt.
»Es ist das Einzige, was funktioniert.«
Hoffte er jedenfalls.
Der letzte Kontakt seiner Finger mit den glatt polierten Tasten lag einige Jahre zurück. Die Virtuosität, die ihn und sein Spiel ausgemacht hatte, schlummerte mit Sicherheit irgendwo tief in seinem Inneren. Nur ließ ihn das stetig tauber werdende Gefühl in seinen Fingerspitzen befürchten, dass es nicht leicht würde, sie wieder aufzuwecken.
»Wirklich?«, erwiderte Ella und zog an ihrer Kippe. »Na ja, mehr braucht es nicht, um ein Mädchen zu verführen, oder? Ich finde es ziemlich sexy, wenn Typen Instrumente spielen. Spricht für Einfühlsamkeit. Gerade an einem Tag wie diesem nicht zu verachten, stimmt's?«
An einem Tag wie diesem. Seinem Geburtstag? Davon wusste sie nichts, er hatte bis eben kaum mehr als drei Worte mit ihr gewechselt. Dann konnte sie nur dieses grässliche Datum meinen. Den Tag der Liebenden, welcher jeden Ungläubigen unter sich begrub wie eine ausladende Picknickdecke das Gänseblümchen.
»Nicht, dass es mich kümmern würde.«
»Was denn? Willst du mir weismachen, da wartet niemand zuhause, der dir heute zuhört?«
Etwas in ihm regte sich. Seiner Brust, seinem Bauch, irgendwo dort. Vielleicht war es die eigenartige Formulierung, die sie gewählt hatte. Als wäre es etwas Besonderes, ihm zuzuhören.
»Nein.«
»Echt? Dann besteht noch Hoffnung für ein einsames Damenherz?«, sagte Ella kokett. »Oder hast du nach der Schicht was vor? Wenn du magst, können wir ein bisschen um die Häuser ziehen.«
»Nein ...«, begann er und durchstöberte seinen Kopf in einer wahnwitzigen Geschwindigkeit nach der versöhnlichsten Abfuhr. »Ich hab lieber meine Ruhe.«
»Ach, so ein Typ bist du. Still, Klavierspieler ... bisschen prüde?«
»Nein«, erwiderte er knapp. Seine Motivation, diesem Mädchen zu erklären, weshalb ihm die unmittelbare Nähe zu Frauen kein Grundbedürfnis war, hielt sich in Grenzen.
»Mann, bist du gesprächig«, meinte Ella kichernd. »Zum Glück hat Cecilie mich vorgewarnt.«
Kasimir presste die Zigarette zwischen seinen Fingern zusammen. Allmählich gingen ihm ihre Andeutungen auf die Nerven.
»Sie hat erzählt, dass du nicht ganz einfach bist. Hübsch anzusehen, aber etwas starrsinnig. Du öffnest dich nicht gern gegenüber Menschen, oder?«
Kasimir zischte ablehnend und ließ seine Zigarette in die Pfütze zu seinen Füßen fallen. So ein Unsinn. Er konnte sich und seine Gefühle sehr wohl mitteilen. Allerdings nicht mit Worten. Er kommunizierte über Noten. Leider verstanden nicht viele diese Sprache, aber warum sollte das nun wieder sein Problem sein?
»Menschen sind unterschiedlich«, sagte er. »Ich bin hier, um Cecilies Schicht zu übernehmen. Du bist ihre Freundin, nicht meine. Beschäftigt euch mit Dingen, die euch was angehen. Nicht mit mir.«
»Und wenn du mich beschäftigst?«, fragte sie neckisch zurück. »Ich sage gar nicht, dass wir feiern gehen müssen. Dafür bist du offenbar nicht der Typ. Aber der Laden hier macht zwölf Uhr dicht, ich schließe heute ab. Sobald alle verschwunden sind, achtet niemand mehr darauf, wer den Flügel benutzt.«
Erneut zog sich dieses Gefühl durch seinen Körper. Ein Brennen der Ungeduld. Die Lust zu spielen, das war ihm klar.
»Überleg's dir«, sagte Ella zwinkernd. »Ich würde gern hören, was du kannst. Celis Augen haben immer gestrahlt, wenn sie von dir und deinen Stücken gesprochen hat. Wenn du nicht für mich spielen willst, dann denk an sie oder wen auch immer. Stell dir vor, ich wäre die Person, der du an diesem Tag zeigen willst, wer du wirklich bist. Dann haben wir beide am meisten davon, meinst du nicht?«
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All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...