{16} H-moll

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Videospiele folgten einem relativ simplen Prinzip: Man wurde ohne Vorkenntnisse in eine realitätsferne Handlung geworfen, die einen komplett überforderte. Ob Einstellungen, Steuerung oder der Plot, alles erschien einem fremd und ungewohnt.

Durch den ersten Abschnitt führte ein sanftes Tutorial, praktisch die Kindheit des Avatars, für den man sich entschieden hatte. Sobald einem die überlebensnotwendigen Kenntnisse vermittelt worden waren, ging es los. Man trainierte seine Fertigkeiten, traf Entscheidungen, verfolgte rückblickende Videosequenzen und sicherte nach wichtigen Ereignissen seinen Spielstand. Auf welchen man immer wieder zurückgeworfen wurde, wenn irgendetwas schieflief, man am Endgegner scheiterte oder wichtige Quests verpasst hatte. Man konnte zurückkehren an den Zeitpunkt, zu welchem noch alles gut gewesen war. Niederlagen ungeschehen machen, Fehlentscheidungen zerstreuen und alles wieder in Ordnung bringen. Am Ende konnte man, sofern man die nötige Disziplin besaß, eigentlich nur gewinnen. Oder man legte den Controller aus der Hand und seine Storyentwicklung auf Eis, verharrte in Erwartung dessen, was man hätte erreichen können. Wenn es einem gelungen wäre, wieder anzufangen und sich seinen Dämonen zu stellen.

Aber so einfach war das leider nicht. Aus diesem Grund erschienen ihm Videospiele auch seit jeher fern jeder Wirklichkeit.

»Missbrauchst du wieder meinen Account?«, hörte er Cecilie durch die geschlossene Wohnzimmertür rufen und pausierte das japanische Kampfspiel.

»Nein ...«, krächzte er. Seine Kehle fühlte sich so trocken an, dass er klingen musste wie ein qualmender Asthmatiker. Und das nach geschlagenen vier Tagen Bettruhe.

Kasimir sah, wie die Klinke ein Stück nach unten wanderte und seine Schwester vorsichtig den Kopf durch den Türspalt steckte. Die übersteigerte Hypochondrie, sich versehentlich mit einer ansteckenden Krankheit zu infizieren, lag ihnen wohl beiden im Blut.

»Wehe dir, wenn doch. Miese Statistiken kosten mich Follower und Werbeeinnahmen auf meinem Kanal. Schreib dir das hinter die Ohren, Pest-Hase.«

Cecilie trug Großmutters Perlohrringe und eine schneeweiße Bluse, das konnte Kasimir gerade noch durch den Türspalt erkennen. Selbst Lidschatten hatte sie aufgetragen und sich vermutlich über Minuten hinweg die starken Kontaktlinsen in die Augen gefummelt, wenn er die leichten Rötungen am Rande der Iris richtig deutete. Irgendetwas war faul.

»Gehst du aus?«, flüsterte er stimmschonend.

»Klinken putzen. Ein neuer Job muss her, sonst haben wir die längste Zeit zusammen in dieser Bruchbude gehaust.«

Seine schlimmsten Befürchtungen waren eingetreten, obwohl ihm Cecilie die schlechten Nachrichten aufgrund seines miserablen Gesundheitszustandes tagelang vorenthalten hatte. Trotz allen Flehens seiner Schwester und Ellas beschwichtigender Erklärungsversuche war Cecilies Teilzeitverdienst im Prélude passé; der Imageverlust war zu gravierend und mit keiner Überstundenzahl der Welt wiedergutzumachen. Weiterhin würden die offenen Rechnungen in den nächsten Tagen in ihren gemeinsamen Briefkasten flattern. Die Anklageschrift des Geschädigten ließ mit Sicherheit auch nicht lange auf sich warten.

Kasimir neigte seinen Kopf gegen die Sofalehne und vermittelte Cecilie unbeabsichtigt das Bild eines reumütigen Straßenkaters. Ihre Mundwinkel erkämpften sich ein zuversichtliches Schmunzeln.

»Schon okay, mein Chef war eh ein Arsch. Wird schon sehen, was er davon hat, sein fleißigstes Bienchen des Stocks zu verweisen. Ich finde was Besseres. Das mit den Schulden bekommen wir auch in den Griff ...«

»Ich mache das«, wisperte er und versuchte, so bestimmt wie möglich zu klingen. »Ich zahle alles zurück, du brauchst dich nicht darum zu kümmern ...«

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt