{45} ... breathe out

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»Hä?«, sagte Leonhard.

Kasimir blickte ihm verunsichert in die Augen.

Bitte nicht. Er musste es verstanden haben. Er konnte sein Geständnis unmöglich wiederholen, das schaffte er nicht. Seine Fingerspitzen zitterten, sein Herz prügelte gegen seinen Brustkorb wie ein Irrer in der Gummizelle. Kasimir konnte nur still beobachten, wie Leonhards Blick skeptisch zwischen ihm und der überfüllten Couch wechselte. Nach einigen Sekunden des Zögerns sah er ihn wieder an, wirkte aber nicht sonderlich erleuchtet.

»Echt jetzt? Habt ihr euch so gut verstanden?«, fragte er ungläubig. »Ich meine, Dawid? Stehst du ernsthaft auf Dawid?«

»Was?«, gab Kasimir irritiert zurück.

»Na ja, eben habt ihr euch noch unterhalten und plötzlich kommst du mir mit deinem Coming-out ... Hängt das nicht irgendwie zusammen?«

Kasimir wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Blick musste ziemlich entgeistert wirken, jedenfalls prustete Leonhard plötzlich los und verschüttete abermals mindestens einen Euro Geldwert seines Getränks.

»Das war jetzt voll die komische Situation«, lachte er. »Echt, Mann, was genau wolltest du von mir hören? Einen entrüsteten Aufschrei? Komm schon, das ist bescheuert.«

»Nein ...«, erwiderte er und fühlte sich ausgesprochen hilflos unter Leonhards mittlerweile mehr als amüsiertem Blick.

»Das weiß ich doch schon seit heut Morgen. Dein Rumgedruckse konnte niemand missverstehen. Machst du dir deswegen 'nen Kopf? Entspann dich, Hasitzky.«

Leonhard plauderte diese Worte daher, als führten sie ein Gespräch über die Wetteraussichten. Dabei war es so viel mehr für Kasimir. Er hatte noch nie jemandem ins Gesicht gesagt, wie es um ihn bestellt war, nicht einmal seine Schwester wusste Bescheid.

»Aber du bist jetzt nicht wirklich in Dawid verschossen?«

»Was? Zur Hölle, nein, natürlich nicht.«

»Ein Glück«, sagte Leonhard grinsend und griff nach seinem Handgelenk. »Wollen wir auf die Tanzfläche?«

🎵🎵🎵

Leonhard verschwand in einem dunklen Meer aus Farben. Die Bässe dröhnten und der künstliche Rauch verklebte die Atemwege, sodass alle Gespräche darin erstickten. Der gesamte Dancefloor war ein Gemenge aus Körpern, Händen und den schillerndsten Frisuren, nicht zugänglich und undurchdringlich. Eine in sich abgeschlossene, fremde Welt.

Kasimir lehnte an der Wand neben dem Ausgang und sehnte sich danach, dass die Tür aufschwang und den dunstigen Raum kurzzeitig mit frischer Luft versorgte. Er fühlte sich so gerädert, dass er sich nicht einmal mehr zutraute, seine stützende Wand zu verlassen.

Es waren bestimmt zwei Stunden vergangen, seit er Leonhards Wunsch, mit ihm in dieser Multimenschensauna zu verschwinden, kategorisch ausgeschlagen hatte. Stattdessen hielt er sich so nah wie möglich am Ausgang auf, um seine Bereitschaft zu demonstrieren, diesen Ort jederzeit zu verlassen. Drei Bier und unzählige dumme Anmachsprüche später wartete er jedoch noch immer darauf, dass Leonhard des Feierns überdrüssig wurde. Vergeblich.

Nachdem er die Tanzfläche zum gefühlt einhundertsten Mal nach seinem Blondschopf abgesucht hatte, seufzte er und versuchte, die drängenden Gedanken, welche munter sein Unterbewusstsein durchpflügten, zu ignorieren.

Wie sollte es jetzt weitergehen?

Was sollte er Leonhard sagen, wie konnte er es ihm bloß verständlich machen? Wenngleich es nur wenige Worte gewesen waren, es hatte sich etwas Grundlegendes zwischen ihnen verändert. Leonhard wusste nun, wie er tickte, Kasimir wiederum konnte nicht im Geringsten einschätzen, wie er dazu stand. Anscheinend hatte Leonhard nicht begriffen, dass er der Dreh- und Angelpunkt in diesem Rondell aus Problemen war. Es machte ihn regelrecht wütend, dass er der Auflösung trotz seines Jahrhundertgeständnisses nicht einen Schritt nähergekommen war.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt