Es waren wohl die unangenehmsten zehn Minuten seines Lebens.
Kasimir störte sich für gewöhnlich nicht an einträchtiger Verschwiegenheit, aber diese Stille fühlte sich dermaßen falsch an, dass er konsequent aus dem Beifahrerfenster starrte. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie es jetzt weitergehen sollte. Er trug verdreckte Turnschuhe, eine schwarze Jogginghose, die von Tomatensaucenflecken verziert wurde, und ein labberiges Band-Shirt, das Cecilie ihm einmal vom Rock am Ring-Festival mitgebracht hatte. Fünf Notenblätter lagen lose verteilt auf dem Rücksitz. Eigentlich fehlte bloß noch eine Plastiktüte vom Discounter, dann wäre sein Auftritt perfekt. Er schloss die Augen. Es war ein Albtraum.
»Kriegst du die Zwanzigtausend auf die Kralle?«, fragte Thomas, während sie an einer Ampel hielten.
»Nein?«
»Aha. Also Überweisung? Oder Scheck?«
»Im Moment bekomme ich gar nichts. Außer vielleicht den Rausschmiss wegen Nichteinhaltens der Kleiderordnung«, erwiderte Kasimir überdrüssig. Als wäre seine Laune nicht schon im Keller. Wieso konnten sie nicht wenigstens in eine Verkehrskontrolle geraten?
»Selbst schuld, du hattest genug Zeit, dir was Vernünftiges rauszusuchen. Außerdem juckt es keinen dort, wie du aussiehst, wenn du spielst wie ein Gott.«
»Schade auch. Ist nicht mal gesagt, ob ich die erste Runde überstehe ...«
Sechs Kandidaten würden bereits am heutigen Tag den Wettbewerb verlassen müssen. Kasimir hatte sich nicht informiert, auf welchem Niveau seine Konkurrenz unterwegs war. Allerdings würde er sich hinter dem diesjährigen Sieger und seiner Sandkastenfreundin einordnen müssen, das stand außer Frage.
Francesca Vielli hatte ihr Paradestück zu Leonhards Generalprobe vor zwei Tagen ebenfalls vorgetragen, und die Darbietung hatte Kasimir, auch wenn er es ungern zugeben wollte, verdammt beeindruckt. Sie spielte Piano, Violine und Bratsche auf Orchesterniveau und würde nach fünfjährigem Studium bald ihren Master abschließen. Er hingegen hatte vor gerade einmal zwei Wochen wieder damit begonnen, ein paar klassische Stücke vom Blatt abzuspielen und war mit seinem derzeitigen Leistungsstand nicht annähernd zufrieden.
»Ach, wird schon. So schwer kann's nicht sein, wenn das alles so Pfeifen sind wie du und dein Freund.«
»Wieso betonst du das?«, sagte Kasimir gereizt. »Wir sind miteinander bekannt, aber er ist nicht mein Freund, klar?«
Thomas grinste auf eine selbstgefällige Art, die Kasimir von Anfang an nicht hatte ausstehen können. Er glaubte, immer alles besser zu wissen und der größte Macker der Nation zu sein, dabei war ein zweitklassiges Fitnessstudio am Stadtrand alles, was er vorzuweisen hatte. Ob er damit genug Einnahmen generierte, war fraglich. Wahrscheinlich war er deshalb so an der Gewinnausschüttung des Wettbewerbs interessiert.
»Schon klar. Und Glutaeus-Muskeln bekommt man vom Sitzen.«
»Was willst du von mir?«
»Tja. Vielleicht, dass du mit offenen Karten spielst? Fällt dir eigentlich selbst auf, wie du den Jungen anstarrst, wenn er nicht hinsieht? Du kannst dir gern einhundert Ausreden einfallen lassen, das erkennt sogar ein Blinder. Gut, bis auf deine Schwester. Die denkt immer noch, du seist bloß schüchtern im Umgang mit Mädchen. Aber ich merke so was, Kleiner. Du ahnst nicht, welch geschultes Auge ein Studiobetreiber besitzt.«
»Komm zur Sache.«
»Gern, wird dir aber nicht gefallen.«
Thomas schwieg bewusst lange und sein Grinsen intensivierte sich. Kasimir war froh, dass sein ›geschultes Auge‹ nicht ausreichte, um die hochkochende Wut in ihm erkennen zu können.
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All Eyes On Me [1]
Romansa»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...