»Aus der Ferne betrachtet wirken alle Sterne unantastbar«, hatte seine Großmutter einmal gesagt, als sie an einem späten Sommerabend gemeinsam von der kleinen Friedhofskapelle nach Hause spaziert waren. Das Sternenzelt hatte sich faszinierend weit über ihnen erstreckt und Kasimir war die ganze Zeit über mit erhobenem Blick vorwärts gelaufen. »Sie scheinen sich alle zu ähneln. In ihrem Glanz und ihrer Größe. Aber je weiter man sich ihnen nähert, desto eher erkennt man, dass jeder für sich ein Unikat ist. Kein Stern ist mit dem anderen vergleichbar, und die wenigsten sind tatsächlich so schön und strahlend, wie sie einem zunächst erscheinen ... Vorsicht, Junge, fall nicht.«
Er war oftmals auf dem Weg gestolpert, da er sich ständig nur am endlosen Firmament orientiert hatte. Im Nachhinein betrachtet, war es von vornherein ein aussichtsloser Balanceakt gewesen. Wie sollte man sich den Sternen nähern? Mit einem Heißluftballon oder einer Rakete? Dafür brauchte man sehr viel Geld und Zeit, und erreichen würde man die fremden Himmelskörper wahrscheinlich nie. Die Distanz war ihm unendlich erschienen.
»Stimmt doch gar nicht, Oma. Egal, von wo aus man sie anguckt, sie bleiben weit weg.«
Daraufhin hatte sie gelacht, ganz zart, wie es sich für eine Großmutter gehörte, die sich über die Naivität ihres Enkels amüsierte.
»Alleine schafft man das natürlich nicht, Kasimir. Aber wenn du jemanden triffst, der dir das Universum zeigen möchte, kannst du die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Nichts ist so weit entfernt, als dass es deine Fantasie nicht erreichen könnte.«
Fantasie, Pah. Wohl eher Träumerei und Hirngespinste. Er hatte damals über die Einfalt seiner Großmutter den Kopf geschüttelt, die ihr Leben lang nicht mehr gesehen hatte als diese Stadt mit ihren kümmerlichen Gärten. Ausgerechnet sie wollte ihm etwas über ferne Welten erzählen?
Die Jahre vergingen, die Sterne waren und blieben hell und er kleidete sich weiterhin schwarz. Dann war es egal, ob man ihn aus der Ferne oder nächster Nähe betrachtete. Ob man ihn überhaupt wahrnahm. Die Erde sah man aus dem Weltraum in genügendem Abstand auch nicht mehr. Trotzdem hatte sie vermutlich mehr hervorgebracht als der prächtigste Stern am Nachthimmel. Deswegen brauchte sie nicht zu leuchten, wollte es wahrscheinlich auch gar nicht.
Er wollte nicht leuchten.
Nicht jetzt, nicht ausgerechnet hier, nicht vor all diesen Fremden, deren Blicke alle Reihen nach ihm absuchten. Ihm, der dieses Lied geschrieben und den Applaus angeblich redlich verdient hatte. Sie klatschten bereits, ohne seinen Standort ausgemacht zu haben. Nur der Junge auf der Bühne, der ihn frech grinsend musterte, wusste in diesem Augenblick scheinbar alles über ihn. Wie die Angst Kasimirs Glieder lähmte, wie er vor Schreck keinen Atemzug tun konnte. In der Befürchtung, dass der kleinste Mucks ihn an die jubelnde Meute verraten könnte.
»Wie jetzt ...?«, hörte er Cecilie neben sich wispern und spürte ihren Blick wie eine scharfe Messerklinge an seinem Hals. »Kasimir Hasitzky ...? Meint der dich? Hast du das Stück geschrieben?«
Seine Fingerspitzen begannen zu zittern, wie jedes Mal, wenn er es vor Anspannung nicht mehr aushielt. Am liebsten würde er aufspringen und wegrennen wie ein Hase, dem ein ganzes Rudel ausgehungerter Wölfe auf der Spur war. Doch wo sollte er hin, wo konnte er sich verstecken? Sein Bau lag weit entfernt am anderen Ende der Stadt, die Straßen außerhalb dieses Palastes waren laut und hell. Dort war kein Platz für ihn, kein Zufluchtsort für seine bebenden Knie. Am Ende würde er gefangen und umzingelt sein, sodass ihre gewaltigen Pelze ihm die Sicht auf die Sterne nahmen, und ihre Augen und Ohren, begeistert zuckend vor seinem scheuen Fiepsen und den schlotternden Pfoten, waren allesamt auf ihn gerichtet.
All eyes on me.
»Kasi, der meint dich, oder?«, drängte Cecilie und stupste ihn in die Seite. Erschreckt fegte er ihre Hand weg und bemerkte erst eine Sekunde später, dass er damit aus seiner Deckung gekrochen war. Die ersten Augenpaare hefteten sich an die Geschwister.
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All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...