Es war so still.
Bis vor einer Minute hatte er geglaubt, er würde an seiner drückenden Nervosität ersticken, doch jetzt fühlte sich alles anders an. Als wäre er nicht mehr existent.
Auf dem kurzen Weg in die Mitte des Podiums war er seinem Tunnelblick gefolgt, an dessen Ende sich der schwarze Flügel befand und ihn erwartete. Leonhards Worte hatten sich wie ein Reif um seinen Kopf gelegt; ob Heiligenschein oder Dornenkranz, da war er sich nicht sicher. Er konnte nicht darüber grübeln, was sie bedeuten mochten oder inwiefern sie sein Spiel beeinflussen würden. Sie waren einfach anwesend. Leise und laut, schmerzhaft und beruhigend zugleich.
Als Kasimir sich vor dem Bechstein niederließ, spürte er nichts als Kälte. Wie war es damals gewesen? Hatte er nicht darauf gebrannt, es ihnen allen zu zeigen? All die anderen Auftritte hatte er verfolgt und dabei nicht eine Sekunde lang das Gefühl gehabt, sie könnten seine Darbietung übertreffen. Er war sicher gewesen, dass alles funktionieren würde, so erpicht darauf, sie alle an die Wand zu spielen.
Und es war ihm gelungen.
Ohne nachzudenken, ohne Konsequenzen zu fürchten, hatte er einfach losgelegt, weil er nichts zu verlieren hatte. Niemand hatte ihn gekannt, keiner hatte Erwartungen an ihn gestellt, und genau diese Freiheit hatte ihm dazu gereicht, ein Palastorchester aus seinen Fingern sprechen zu lassen.
Was war heute anders?
Er legte seine Fingerspitzen auf die Klaviatur. Das Zittern hatte nachgelassen; seine Hände wussten genau, welcher Aufgabe sie sich zu widmen hatten, auf sie würde er sich verlassen können. Warum auch nicht? Er hatte tage- und nächtelang geübt. Selbst wenn es nicht perfekt erschien, war er doch imstande, dieses Lied angemessen qualitativ vorzutragen. Und wann hatte der Titel besser zugetroffen als in diesem Augenblick? Alle sahen ihn erwartungsvoll an, die Juroren, die anderen Kandidaten. Die italienische Hexe und dieser Großkotz, der es gewagt hatte, ihn zu provozieren. Er würde ihm schon zeigen, mit wem er sich angelegt hatte. Er konnte es.
Fang an. Der Auftakt, los. Komm schon.
Die Sekunden verstrichen. Jemand im Publikum hustete. Es dauerte zu lange.
Kasimirs Pulsschlag stieg kontinuierlich an, das Lampenfieber verdrängte die
Kälte aus seinen Gliedern. Trotzdem waren seine Finger wie festgefroren.Zur Hölle, wie begann das Stück?
Ihm blieb die Luft weg, seine Lippen begannen zu beben.
Unauffällig wandte er seinen Blick ins Publikum. Sie durften seine Angst nicht sehen, sonst würde er definitiv belächelt dafür, was er sich eingebildet hatte.
Kriech zurück in deinen Bau und versteck dich, komm nie mehr hervor. Belaste uns nicht mit deinen albernen Träumereien.
Versager.
Kasimirs Schultern verkrampften sich, er rutschte ein Stück zurück auf dem Hocker. Eigentlich war es völlig egal, was von diesem Moment an geschah. Tiefer sinken konnte er kaum. Dann amüsierten sie sich eben über ihn, na und? Vielleicht brauchte er genau das. Häme und Spott, vielleicht feuerte es ihn sogar an? Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er sich damit bloß etwas vormachte. Es würde ihn zerstören, ein für alle Mal, und er würde im Nebel seiner eigenen Finsternis zugrunde gehen. Es war die Angst, die ihn gerade in die Enge trieb. Die nackte Angst.
Noch einmal blickte er in die Menge, und als er Leonhard irgendwo in der Mitte erkannte, starrte er sich an ihm fest. Er war schuld, dass er hier saß und nichts voranbringen konnte. Er hatte ihn dazu genötigt, das war seine späte Rache. Er hatte doch die ganze Zeit gewusst, dass Kasimir es nicht schaffen würde.
Plötzlich bemerkte er, wie Leonhards Lippen stumme Worte formten. Sein Gesichtsausdruck erschien vollkommen emotionslos, weder Schadenfreude noch Enttäuschung zeichneten sich ab. Kasimir konnte nicht erkennen, was genau er versuchte, ihm zu sagen. Aber die Botschaft war ihm gewidmet. Nur ihm allein.
Er wandte sich noch einmal dem Flügel zu und atmete tief durch.
Breathe, dachte er. Just breathe don't drown your heart.
Es war dieser blöde Popsong von heute Morgen, der seine Gedanken überfiel und davonschwemmte. Obwohl ein Ohrwurm im Moment das letzte war, das er gebrauchen konnte, fühlte er sich von einer Sekunde auf die nächste ein wenig freier. Er konnte dieses Lied nicht leiden und dennoch flutete es seinen Verstand und ertränkte seine Befürchtungen. Er hörte den Refrain wieder und wieder, konnte sich nicht wehren oder davor verschließen. Er musste zuhören, ob es ihm gefiel oder nicht.
Und das war er. Der Grund, weshalb er begann, den Auftakt von ›All Eyes On Me‹ zu spielen.
Sie alle waren hier, um ihm zuzuhören. Ob sie wollten oder nicht, ob sein Klang ihnen missfiel oder nicht. Sie konnten nicht einfach gehen oder aktiv weghören, sie mussten sich seinen Spielereien hingeben. Vielleicht stöckelte er kreuz und quer durch die Harmonien, ja und? Pech für sie, dann bekamen sie eben Ohrenschmerzen. Zuhören mussten sie trotzdem.
Kasimir dachte nicht darüber nach, wie er die Dynamik gestalten sollte oder ob er die Pausen ordnungsgemäß einhielt, darauf hatte er schon während der Proben keine Zeit verschwendet. Er musste durchkommen bis zum Schluss, überleben und über die Fallgruben und Fußfesseln springen, die er damals selbst eingebaut hatte. Im Nachhinein kein besonders intelligenter Schachzug. Es klang nur innovativ und aufwühlend, wenn man es richtig spielte. Aber das tat er im Augenblick nicht. Er zerhämmerte seine fragile Komposition mit Gewalt, prügelte die Melodie herunter wie ein Folterknecht, der es zu Ende bringen wollte, damit das Opfer endlich sein Geständnis abgab. Sein Lied sollte schreien, dass es Angst hatte, dass es in Selbstzweifeln ertrank und sich nicht zu retten wusste. Und das Publikum sollte ihm dabei zusehen, wie es elendig zugrundeging.
Das konnte Kasimir. Er konnte ihnen genau aufzeigen, was die vergangenen Jahre aus ihm und seinem Talent gemacht hatten.
Wenn sie am Ende entsetzt schweigen würden, hatte er sein Ziel erreicht.
Die letzten Takte. Schneller, vernichtender. Seine Kondition hatte gelitten und sein Herz pumpte auf Höchstleistung. Vielleicht erlitt er einen Krampfanfall, wenn die letzte Note gespielt war, vielleicht starb er auf der Bühne? Eine nette Vorstellung, davon träumte jeder Künstler. Allerdings wäre es schade, wenn er der Welt mit dieser Lachnummer von Leistung in Erinnerung bleiben würde.
Das waren seine Gedanken, als er den letzten Akkord ausklingen ließ und den Fuß vom Pedal nahm.
Das war's dann also, dachte er sich.
Und dann erklang Applaus.
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All Eyes On Me [1]
Romansa»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...