{27} F-moll

534 80 2
                                    

Die Metrik war unausgereift, das Motiv kaum einprägsam. Der Rhythmuswechsel, die Dynamik der Kadenz, das war alles viel zu kurz gedacht.

Kasimir lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und schloss die Augen, um sich den Klang des Liedentwurfs bildlich vorzustellen. Er fand keinen roten Faden in der schluderig gezeichneten Notenfolge, die Leonhard ihm bei ihrem letzten Treffen vor zwei Tagen überreicht hatte. Die Melodie ähnelte weder einem Fluss, der sich gemächlich mäandrierend durch die Lande schnitt, noch einem Sturzbach, der das Auditorium mit voller Wucht erfasste. Vielmehr eine dilettantische Mischung aus beidem. Er war jedenfalls noch nicht hinter die Grundidee gekommen, die Leonhard dazu verführt hatte, seinen Wettbewerbsbeitrag auf diese unstete Weise zu gestalten.

›Die chromatische Folge ab Takt 11 harmoniert nicht mit der Basslinie‹, tippte er in sein Smartphone, sendete die Nachricht und rieb sich mit den Händen über die Augen. Er saß seit knapp zwei Stunden mehr oder minder erfolgreich vor diesem elenden Blatt Papier, eine Pause täte ihm wahrscheinlich gut. Natürlich könnte er zur Abwechslung auch weiter an seinem eigenen Stück feilen, wenngleich er mit dem Einstieg grundsätzlich zufrieden war.

Es handelte sich um das Lied, das er für die Harmonica vor zwei Jahren unter dem Motto ›Liebe‹ geschrieben hatte. Zwar wurde ihm unwohl beim Gedanken, dass er es nie vor Publikum vorgetragen hatte, es jedoch einfach zu verwerfen, passte ihm noch weniger. Die Chance auf eine Finalteilnahme war ohnehin nicht allzu hoch, vermutlich kam er nicht einmal in die Verlegenheit, es präsentieren zu müssen. Trotzdem würde er dem Lied später den Feinschliff verpassen. Aus seiner Niederlage gegen Leonhard hatte er gelernt, dass man sich seiner Sache niemals zu sicher sein sollte.

Als er sich wieder dem knittrigen Notenblatt zuwenden wollte, klopfte es an der Tür. Kasimirs Blick fiel auf die Wanduhr, es war gerade zwanzig vor acht. Cecilies Zeit, sich auf den Weg zur Arbeit zu machen.

»Ja?«

»Oh, du bist wach?«, flüsterte es überrascht von der anderen Seite der Tür. »Kann ich kurz reinkommen?«

»Meinetwegen.«

Cecilie drückte die Klinke vorsichtig herunter, wahrscheinlich lag Thomas noch im Bett. Als Kasimir gestern Nacht gegen 23 Uhr nach Hause gekommen war, hatte er die beiden lautstark debattieren hören.

»Schläfst du zwischendurch auch mal?«, fragte sie und sah sich neugierig im Raum um, als vermutete sie den Grund für seine frühmorgendliche Bettflucht irgendwo zwischen dem Mobiliar.

»Der erste Entwurf für den Wettbewerbsbeitrag muss übermorgen eingereicht werden.«

»Ach? Ich dachte, du wärst fertig?«

»Ich schon, aber das hier ... keine Ahnung. Ich komme nicht zurecht damit.«

Sie trat näher an den Schreibtisch heran und lugte ihm über die Schulter. »›Il solitario‹? Was soll das heißen?«

»Ist italienisch. Irgendwas mit ›allein‹, schätze ich.«

»Echt? Klingt ja deprimierend. Wieso gibst du deinen Kompositionen eigentlich keine italienischen Namen? Macht deutlich mehr her als dieses schnöde ›Facing Facts‹ letztens ... oder dein Schwieriges damals, ›All Ice For Me‹ oder so?«

»All Eyes On Me«, erwiderte er ernüchtert und schüttelte den Kopf. »Ich will, dass die Leute auf Anhieb verstehen, wovon das Stück handelt.«

»Macht Sinn«, sagte sie und überflog die Folge der krummen Notenhälse, als würde sie etwas davon verstehen. »Die schönste Schrift hat der Gute aber nicht.«

»Nein, ist teilweise schwer zu entziffern. Er scheint es mit dem Schreiben nicht so zu haben, schickt mir auch ständig Sprachnachrichten. Geht mir tierisch auf die Nerven ...«

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt