{66} Funken

433 69 0
                                    

»Als ich in deinem Alter war, lagen diese Mauern in Schutt und Asche. Mein Bruder und ich haben damals oft nahe der Ruinen gespielt. Kannst du dir das vorstellen, Kasimir?«

»Hab Fotos gesehen«, antwortete er und betrachtete die dunklen Fassadenreste der wiederaufgebauten Frauenkirche, welche inzwischen von neuen Sandsteinblöcken gesäumt wurden. »Warum haben sie nicht alles neu gemacht? Jetzt sieht die Wand aus wie ein Flickenteppich.«

»Sie ist ein Mahnmal, mein Junge. Dieser Ort hat Zeiten durchlebt, derer sich niemand gern erinnert. Aber es ist wichtig, dass wir nie vergessen, woher wir kommen. Leid ist ein ebenso bedeutendes Gefühl wie Freude, Schönheit genauso vergänglich wie Schrecken. Man muss in jeder Zeit mit jedem Empfinden umzugehen lernen und versuchen, es als Funken des Lebensfeuers begreifen. Wir alle wollen am Ende glücklich sein, nicht wahr? Auf dieses Glück müssen wir hinarbeiten. Wir bauen unsere Kirche und erfreuen uns an ihr. Sie wird uns genommen und wir leiden darunter. Wir überwinden den Kummer und errichten sie von neuem ...«

»Ich will keine blöde Kirche bauen. Ich werde ein berühmter Komponist.«

Sie lachte.

»Damit verhält es sich ganz ähnlich. Du schreibst ein Stück und bist stolz darauf. Jemandem gefällt es nicht und er redet es schlecht, woraufhin du dein Notenblatt in den Kamin wirfst und das Feuer anzündest. Du ärgerst dich, es geschrieben zu haben, und bist gleichermaßen traurig, es aufgeben zu müssen. Aber du vergisst es nicht. Irgendwann erinnerst du dich wieder daran und wirst es erneut arrangieren, alte und neue Elemente vermischen und etwas schaffen, das viel mehr beinhaltet als Raffinesse oder Gefälligkeit.«

»Was denn?«

»Dein Herz.«

Er verdrehte die Augen. Was für eine kitschige Antwort. Für sie war immer alles so einfach.

»Außer mir weiß das doch keiner, Oma ...«

»Oh, da irrst du dich. Die Frauenkirche wurde auch nicht von einer einzigen Person wiedererrichtet. Es waren viele Menschen, denen ihr Erhalt am Herzen lag. Es wird stets jemanden geben, dem das, was dir wichtig ist, ebenso viel bedeutet. Und dieser Jemand wird erkennen und wertzuschätzen wissen, was du durchgemacht hast, um dein Werk zu vollenden. Er wird dir helfen, wiederzuerlangen, was du verloren geglaubt hast.«

»Ich hab doch gar nichts verloren.«

»Nein. Aber eines Tages wird es so sein. Wir alle verlieren irgendwann das, was uns am Wichtigsten ist. Das heißt aber nicht, dass wir es nicht wiederfinden können.«

Er verzog die Lippen.

»Ich hab nichts zu verlieren. Und ich brauche niemanden, ich werde ohne Hilfe ein großer Konzertpianist. Wirst schon sehen, Oma. Dann spiele ich Rameau und Debussy vor tausend Leuten und alle jubeln mir zu.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und würdigte dieses Flickwerk von Gemäuer keines weiteren Blickes. Als ihm seine Großmutter sanft über den Rücken strich, war ihm das triumphierende Lächeln nicht mehr zu nehmen.

»Ja, Kasimir, darauf freue ich mich. Ich bin gespannt, welche Geschichte du dann zu erzählen haben wirst.«

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt