{68} Easy, pt. 2

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»Die Altstadt bei Nacht ist echt der Wahnsinn. Eigentlich sollte man sich das viel häufiger antun, oder?«

Leonhard drehte sich nicht um, während er sprach. Sein Blick wanderte fasziniert von einem barocken Bauwerk zum nächsten. Die letzten Sonnenstrahlen, in deren warmen Tönen sie zu schimmern schienen, vereinnahmten seine gesamte Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich würde ihm nicht einmal auffallen, ob Kasimir zustimmte oder nicht, also ließ er es bleiben und folgte ihm schweigsam durch die Gassen.

In seiner Kindheit war er mit ebenso strahlenden Augen durch die Straßen gezogen, hatte auf die alten Gemäuer gezeigt und seine Großmutter nach ihren Bezeichnungen gefragt. Das Georgentor. Der Fürstenzug. Er war so beeindruckt gewesen von den Geschichten, die sich hinter den stillen Fassaden verbargen, dass er kaum mehr etwas Anderes wahrgenommen hatte.

Heute war es anders.

Er sah die Gebäude mit blinden Augen, hörte ihren Hall mit den Ohren eines Reisenden, der sich bald nicht mehr an ihren Klang erinnern würde. Diese Aussicht stimmte ihn wehmütiger, als er erwartet hatte. Nicht im Zusammenhang mit dem Verlust der Stadt, in welcher er aufgewachsen war. Sondern dem Verblassen der Gesichter, welche ihm tagtäglich darin begegnet waren.

»Kasi, träumst du?«, hörte er Leonhard rufen und blickte auf. »Wir sind fast da. Jetzt brauchst du auch nicht mehr zu kneifen.«

Er winkte ihm vom Ende der Gasse her zu. Kasimir spürte seine Fröhlichkeit, die ihn auf der Terrasse noch ermuntert hatte, plötzlich wie einen Schnitt im Herzen. Er wusste, dass er ihm früher oder später von seinen Plänen erzählen musste. Im Moment fühlte er sich jedoch nicht in der Lage dazu. Er versuchte, sich eine Art Zuversicht auf die Lippen zu zwingen, während er die Vorstellung kaum ertrug, sein verschlagenes Lächeln bald nicht mehr sehen zu können, wenn es ihm fehlte.

Zum Glück schien Leonhard ihm seine Trübsal nicht anzusehen. Als Kasimir neben ihm eintraf, sah er den beleuchteten Neumarkt und die Frauenkirche direkt vor sich.

»Wahnsinn, oder? Hättest du an deinem Geburtstag gedacht, dass du drei Monate später an diesem Ort vor so vielen Leuten auftreten würdest? Sieh dir nur diese Menschenmassen an. Die passen im Leben nicht in die Kirche.«

Kasimir betrachtete das Auflaufen der elegant gekleideten Abendgesellschaft, die sich allein aus dem Grund versammelt hatte, Leonhard und ihn spielen zu hören. Es war die unwirklichste Realität, in welcher er sich jemals wiedergefunden hatte.

»Wie sieht's aus? Bereit für die große Show?«

»Ja.«

»Aber aufgeregt bist du schon, oder?«

»Natürlich.«

»Gut. Dann komme ich mir nicht ganz so erbärmlich vor.«

Der Klang von Leonhards Stimme hinterließ nicht länger den Eindruck, als fühlte er sich besonders wohl angesichts des nahenden Ereignisses. Vielleicht wäre es an Kasimir, etwas Aufbauendes zu erwidern, aber er brachte es nicht fertig. Da war so vieles, was ihn beschäftigte, so viele unausgesprochene Worte, die sich an seinen Zähnen festklammerten und seinen Mund einfach nicht verlassen wollten. Während ihm geradezu schmerzhaft gegenwärtig war, dass ihm die Zeit davonlief.

»Okay, ähm ... bevor ich von zuhause los bin, hat Franna mir geschrieben, dass ich mich nochmal bei ihr melden soll, wenn wir ankommen, also ... stört es dich, wenn ich kurz durchklingle?«

Kasimir blieb keine Zeit, einen Einwand zu finden, als Leonhard bereits sein Handy am Ohr hielt. Dabei ahnte er, weshalb sich Francesca kurz vor dem Ereignis der Gemütslage ihres Schützlings vergewissern wollte. Diese Frau würde vermutlich niemals ihre Krallen einfahren, solange sie Leonhard unter ihren Fittichen hatte. Allerdings fiel ihm auf, dass sich die Art, wie er mit seiner vertrautesten Person sprach, verändert hatte. Es lag nicht mehr diese Erwartung in seinen Worten, die Kasimir stets wahrzunehmen geglaubt hatte.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt