{13} Presto

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Die Geschichte des Regens war endlos. Mal philosophierte er in weichen Bindfäden, mal in scharfen Projektilen. Leiser, lauter. Als wollte er auf sich aufmerksam machen, die Dynamik seiner Erzählung erhalten. Doch er wurde nicht verstanden.

Die rastlosen Schritte zerschnitten jedes seiner Worte. Der kondensierende Atem ließ seine Weisen verschwimmen, das Keuchen nach Luft kappte seine unsichtbaren Stimmbänder. Irgendwann besaß sein Prasseln keine Kraft mehr, die hitzigen Gedanken herunterzukühlen und dem Verstand wieder an die Oberfläche zu verhelfen. Irgendwann erreichte er nicht einmal mehr den Menschen, der ihm bis zu diesem Zeitpunkt immer treu gewesen war.

Da war so viel, das Kasimirs Aufmerksamkeit hätte vereinnahmen müssen. Die blinkenden Ampellichter, die Scheinwerfer der Straßenbahn. Zebrastreifen, Verkehrsschilder, schlichtweg alles, was die Ordnung in dieser Stadt aufrechterhielt. Er ignorierte sie, entschied sich für das Chaos in seinem Kopf. Ohne Rücksicht auf Verluste rannte er über die Hauptstraße und machte keine Anstalten, den entsetzten Fahrern in ihren PKWs auszuweichen. Es erhoben sich Hupkonzerte, eines dröhnender als das andere, aber er nahm es nicht wahr. Nur den erbarmungslos heftigen Schlag seines Herzens und das giftige Echo seines Gewissens. Einhergehend mit dem Trommeln der Wut auf sich selbst, der Scham und des still pochenden Bedauerns. All diese Klänge zusammen klopften so laut von innen gegen seine Schädeldecke, dass er bald wahnsinnig wurde.

Wie hatte das passieren können? Nie zuvor hatte er sich so vergessen; eine Kurzschlusshandlung, von jetzt auf gleich. Welcher vernünftige Mensch tat so etwas? Die Antwort brannte in seiner Seele, seit er vom Lokal losgelaufen war. Weggelaufen war. Vor demjenigen, der sie ihm zugeflüstert hatte: Niemand würde so handeln.

Ein Niemand.

Seine Beine wurden müde und die Lungen fielen allmählich in sich zusammen. Er hätte das mit dem Rauchen besser lassen sollen. Seine verkümmerten Atemwege lähmten jegliche Kondition und er verfiel in ein langsames Traben, während sein Puls ihm vorgaukelte, einen Marathon gelaufen zu sein. Bereits fünf Minuten nach seiner überstürzten Flucht war er nass bis auf die Knochen gewesen und riskierte nun eine saftige Erkältung. Dabei hätte es so leicht sein können. Die Bahn, eine Buslinie oder zur Not ein Taxi, vermutlich wäre er längst zuhause. Doch er hatte sich den Frust und die Verleumdung aus den Beinen laufen müssen. Erst jetzt, da er über drei Kilometer gerannt war, fühlte er einen einigermaßen passablen Abstand zwischen sich und der Schmach, die er zu verantworten hatte. Wie ein Hase, der seinem Fluchtinstinkt folgend den Bau mit seiner Familie schutzlos dem Fuchs überlassen hatte.

Die letzten fünfhundert Meter bis zu seinem Block schleppte er sich kraftlos. Er fühlte, wie die angestaute Hitze seinen Körper verließ und einer beißenden Kälte platzmachte, die sich in seinen Gliedern einnistete und ihn innerlich wie äußerlich zittern ließ. Mit jedem Schritt kühlte sich die Raserei in seinem Kopf ab und er begriff, wie unüberlegt und schwachsinnig seine Reaktion gewesen war.

Alles, was er selbst als wertvoll erachtete, sein Handy, Portemonnaie und Hausschlüssel, war in seinem Rucksack im Personalraum des Restaurants zurückgeblieben. Cecilie würde ihren freien Abend mit Sicherheit nicht auf ihrer Zockercouch verbringen, immerhin hausierte ihr muskelbepackter Auserwählter hauptberuflich in einem schicken Appartement oberhalb seines eigenen Fitnessstudios in der Neustadt.

Kasimir sah sich mit der Perspektive konfrontiert, bei 4 Grad Außentemperatur im strömenden Regen mitten in der Nacht ohne Bleibe dazustehen.

Er erreichte die beschlagene Panzerglastür und blickte in den dunklen Hausflur. Vielleicht musste noch jemand mit dem Hund raus und ließ ihn hinein, sodass er wenigstens auf dem Abtreter seiner Wohnungstür übernachten konnte. Sein ganzer Körper erschauderte bei der Vorstellung, die Nässe legte sich wie ein Eisfilm auf seine Haut.

Natürlich war es aussichtslos, doch er drückte den Klingelknopf unter dem kleinen Plasteschild mit dem Aufdruck Hasenick viermal nacheinander. Im Moment waren ihm sogar die Keime auf der Oberfläche egal. Er wollte einfach nur hinein, den Vorwürfen des Regens und der unerbittlichen Kälte entfliehen, um sich wie ein feiges Kaninchen zu verkriechen.

Warum hatte er es nicht einfach ertragen? Genau wie damals, als er ihm vor dieser Tierarztpraxis über den Weg gelaufen war? Was hielt ihn davon ab, sich seine Niederlage einzugestehen und nach vorn zu blicken? Vorbei an den Klavieren dieser Welt und den Glückspilzen, deren Berufung es war, auf ihnen zu spielen.

Kasimir presste die Lider aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Wieso verstummte sie nicht endlich? Leonhard Valentins laute, schreckliche, wunderschöne Interpretation seiner in Noten gefassten Gefühle?

»Ja?«

Er öffnete die Augen und blickte zum Lautsprecher, dem soeben das mechanische Krächzen seiner Schwester entwichen war.

»Bestimmt ein Besoffener«, hörte Kasimir eine dumpfe Stimme aus dem Hintergrund meckern. »Lass gut sein, Schnecke ...«

»Sei doch mal still, ich hör nix ... Hallo?«

Kasimir zögerte. Wie sollte er ihr unter die Augen treten, wie sollte er das alles bloß erklären? Vielleicht war es tatsächlich das Beste, sich sturzbetrunken zu geben. Das würde ihm Zeit verschaffen, sich eine plausible Ausrede einfallen zu lassen. Oder er machte auf der Stelle kehrt. Seine kalten Füße rührten nicht mehr nur von der Klammheit seiner zu engen Schuhe.

»Hallo?«

»Ich bin's«, wisperte er und vergrub zermürbt sein Gesicht in den Händen.

Eine Weile folgte keine Erwiderung. Erst nach endlos langen Sekunden klang ihre Stimme wieder in seinen Ohren.

»Kasi? Warum bist du schon wieder da? Die Schicht endet doch erst um ...«

»Mach bitte einfach auf.«

Dann erlöste ihn endlich das künstliche Schrillen des Türöffners, und er betrat zitternd seine persönliche Höhle des Löwen.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt