{41} Air

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»Also, wir sind uns einig, dass du die Kadenz ganz konservativ beibehältst?«

Leo nickte, konnte sich aber nur schwerlich auf Frannas Predigt konzentrieren. Sein Blick haftete an der Eingangstür des Saales in der Hoffnung, Kasimir würde endlich wieder auftauchen. Die ersten drei Stücke waren bereits vorgetragen worden; sein eigener Auftritt war der fünfte. Gefolgt vom ersten Satz der Mondscheinsonate.

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

»Hm?«

Er wandte sich an Franna, die seufzend die Lippen verzog.

»Jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen. Der kreuzt schon wieder auf.«

»Mit einer Lebensmittelvergiftung ist aber nicht zu spaßen. Vielleicht sollte er lieber ins Krankenhaus ...«

»Dann ist er disqualifiziert«, stellte Franna nüchtern fest. »So, wie ich ihn nach seinem letzten Auftritt einschätze, würde er lieber auf der Bühne sterben, als aus gesundheitlichen Gründen aufzugeben. Er ist alt genug. Das bisschen Entscheidungsfreiheit musst du ihm zugestehen.«

Es überraschte Leo, dass sie sich derartig auf Kasimirs Sturheit einließ. Normalerweise war sie froh, wenn ein Konkurrent ausschied, immerhin vergrößerte das ihre eigenen Chancen auf den Sieg. Dass selbst sie darauf bestand, dass Kasimir trotz seines schlechten Gesundheitszustands auftrat, ließ darauf schließen, dass sie seine Darbietung in der ersten Runde nicht unberührt gelassen hatte. Auch wenn sie oft ein loses Mundwerk an den Tag legte, wusste sie es zu würdigen, wenn jemand für seinen Traum kämpfte. Der Umstand, dass es Kasimir in kurzmöglicher Zeit gelungen war, sich an sein altes Niveau heranzuarbeiten, musste sie nachhaltig beeindruckt haben.

»Konzentrier dich auf dein Air«, schärfte sie ihm ein. »Es nützt keinem von uns, wenn du dir seinetwegen den Kopf zerbrichst und deshalb deinen Auftritt vergeigst. Deine ganze Familie hört zu. Biete ihnen eine Show. Du weißt, wie viel für dich auf dem Spiel steht.«

»Ja.«

»Dieser Wettbewerb kann dein Karrieresprung nach ganz oben sein.«

»Ja, ist gut ...«, murmelte er resignierend. »Ich bekomme das schon hin.«

»Das will ich hoffen. Bereite dich mental darauf vor, ich versuche derweil, den Kerl rechtzeitig in den Saal zu bekommen.«

Nachdem sie ihm ein träges Nicken abgerungen hatte, machte sich Franna zügigen Schrittes auf in Richtung Flur. Sie hatte gut reden. Ihr Auftritt war hervorragend verlaufen, Leo hatte kurzzeitig sogar die Sorge um seinen Freund vergessen können. Dabei war ihm sofort aufgefallen, dass irgendetwas mit Kasimir nicht stimmte. Warum in aller Welt hatte er ihm nichts von seinen Problemen gesagt?

»Brudi? Kommst du? Du bist gleich dran.«

Mira zupfte am Ärmel seines Hemdes, woraufhin er ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte.

»Na klar«, sagte er und ließ sich von ihr in die hinterste Sitzreihe zu seinen Eltern führen, kam jedoch nicht umhin, einen letzten Blick zum Ausgang zu werfen. Zwei Auftritte noch.

Franna musste es unbedingt schaffen.

🎵🎵🎵

Die Melodie plätscherte dahin wie ein kleiner, frühlingshafter Naturbach. Hin und wieder trillerten Waldvögel, das Moos atmete unter der dünnen Schneedecke und ein Krokus spross durch das Dickicht. Alles wirkte harmonisch und feingliedrig, verträumt und losgelöst von allen weltlichen Problemen. Das war Bachs Air aus der 3. Suite für Orchester. Leo liebte Bachs Kompositionen, er verlor sich oft vollkommen in ihren Klängen. Doch obwohl er all sein Gefühl in die Interpretation hineinlegte, konnte er seinen Geist dieses Mal nicht gänzlich den Noten widmen. Er hoffte, dass sich seine innere Aufwühlung nicht allzu sehr auf sein Spiel auswirkte. Leos Vater, der neben Franna als sein größter Kritiker galt, saß jedenfalls mit geschlossenen Augen und wohliger Ruhe im Gesicht auf seinem Platz. Seine ganze Familie lauschte bedächtig, nur Franna fehlte.

Und Kasimir.

Als er zum Schlussteil ansetzte, rief er sich ihre Ermahnung bezüglich der Kadenz ins Gedächtnis. Sie würde ihm die Hölle heiß machen, wenn er sich nicht an die Absprache hielt. Andererseits war sie nicht anwesend und konnte ihm einen kleinen Ausflug in die Kreativität nicht verbieten. Er hatte sogar das Bedürfnis, nach diesem Schrecken ein wenig Frische in die finale Harmonie zu legen.

Als er sich gerade dazu entschlossen hatte, etwas ziemlich Verrücktes zu versuchen, bemerkte er aus dem Augenwinkel, wie Franna plötzlich im Türrahmen auftauchte. Als hätte sie Lunte gerochen, stierte sie streng zu ihm herüber. Was ihn allerdings weitaus nervöser machte, war der Umstand, dass sie Kasimir im Schlepptau hatte.

Er lehnte recht matt an der Wand, hatte sich aber immerhin wieder aus dem Bad herausgetraut. Leo musste sich sehr zusammenreißen, seine Konzentration aufrechtzuerhalten und starrte sich an der Klaviatur fest, wenngleich er ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte. Es war Franna tatsächlich gelungen, ihrem Versprechen Taten folgen zu lassen. Zum Dank hielt er sich an ihre Order bezüglich des letzten Abschnitts.

Als der Akkord lang genug geklungen war, löste Leo seinen Fuß vom Pedal, erhob sich und verbeugte sich vor dem applaudierenden Publikum. Dafür, dass seine Aufmerksamkeit unter den Vorfällen gelitten hatte, war der Auftritt recht gut verlaufen. Auch Franna und Kasimir klatschten in die Hände, wenngleich es in ihrem Fall wirkte, als wäre Leo soeben auf einer Trauerfeier aufgetreten. Er zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und blieb gerade so lange auf dem Podium, wie es der Anstand gebot, dann machte er sich umgehend auf den Weg zur Tür. Je weiter er sich den beiden näherte, desto mulmiger wurde ihm zumute. Kasimir sah schrecklich ausgezehrt aus.

»Was meinst du, wird es gehen?«, waren seine ersten Worte, als er vor ihnen stehen blieb. Kasimir zuckte etwas kraftlos mit den Schultern.

»Muss ja.«

»Du hast echt das mieseste Krankheitstiming, das ich mir vorstellen kann.«

»Jeder hat verborgene Talente«, erwiderte Kasimir und lächelte so unerwartet, dass Leo beinahe die Gesichtszüge entglitten wären. »Ist jetzt auch egal. Ich bring's hinter mich und dann ist gut.«

»Mhm ...«, murmelte Leo und warf einen hilfesuchenden Blick zu Franna, die ebenfalls mit den Schultern zuckte.

»Dann verlier besser keine Zeit. Gruppe A und Gruppe B wechseln sich ab. Du bist jetzt dran, Kasimir.«

Es verblüffte Leo, dass selbst Franna ihn mittlerweile beim Vornamen ansprach. An den niederträchtigen Blicken, die sie einander schenkten, hatte sich jedoch nichts verändert.

»Weiß ich selbst.«

Offenbar wollte es Kasimir dabei belassen und einfach an Leo vorbeigehen. Geistesgegenwärtig griff er nach seinen Handgelenken, woraufhin sich Kasimir ihm verwundert zuwandte.

»Denk an gestern«, flüsterte Leo ihm zu. »Die Straße ist gepflastert, nicht asphaltiert. Und die Bücher in dem Zimmer sind alt und ehrwürdig, okay? Nicht schimmlig.«

»Keine Ahnung, wovon du redest«, erwiderte Kasimir. Dennoch spürte Leo, wie er seinen Händedruck schwach erwiderte. »Ich bekomme das schon hin. Mach dir nicht ins Hemd.«

»Ja ... gut.«

Zwar war Leo von seinen eigenen Worten nicht sonderlich überzeugt, dafür überraschte ihn Kasimirs abgeklärte Reaktion umso mehr. Woher nahm er diese plötzliche Gelassenheit? Sein Auftreten wirkte wie eine gefährliche Mischung aus Lethargie und Ignoranz gegenüber dem Wettbewerbsdruck. Aber im Grunde genommen hatte er damals, als er zum ersten Mal vor dem Publikum der Harmonica aufgetreten war, haargenau so auf ihn gewirkt. Er und sein Spiel hatten ihn nachhaltig fasziniert, der Auftritt war eingeschlagen wie eine Rakete.

Hätte er in dem Moment, als er sich zwischen Paula und Franna niederließ, auch nur geahnt, dass sich dieses Szenario am heutigen Tag endlich wiederholen würde, hätte Leo sich gefühlsmäßig besser darauf eingestellt.

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Johann Sebastian Bach - »Air«, Orchestersuite Nr. 3 (BWV 1068):

https://www.youtube.com/watch?v=xDWG9SrB4io

YT-Interpret: ROUSSEAU

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt