Was fühlte man, wenn das eigene Spiegelbild lächelte? Die Zuversicht, dass bis zu diesem Zeitpunkt alles richtig verlaufen war? Optimismus gegenüber der Zukunft? Oder war es bloß eine Maske, die einem genau dieses Bild zu vermitteln versuchte? Wer stand wirklich jenseits des reflektierenden Glases?
Im Alter von zwölf Jahren, als Leo seinen ersten Triumph errungen hatte, war ihm das Haar noch strohblond in die Stirn gefallen. Heute verbannte er seinen nichtssagenden Pony mit Haargel aus seinem Gesicht, während er sich im Spiegel musterte.
Da war nichts Besonderes an ihm, nichts, das ihn von anderen Neunzehnjährigen unterschied. Die unreinsten Partien seiner Haut hatte er mit Francescas Schummelmousse kaschiert, wenigstens vor großem Publikum musste man den Schein wahren. Auch seinen Anzug hatte er unter ihrem kritischen Auge ausgewählt; er wusste, dass sie seine Geschmacklosigkeit verteufelte. Ebenso wie die Eigenart, mit Kopfhörern durch die Gegend zu laufen und dabei die Einflüsse seiner Umwelt zu vergessen. Wie oft wäre er schon beinahe überfahren worden, weil er gebannt von Dan Smiths Texten und Avicis Rhythmen alles um sich herum ausgeblendet hatte? Das war kindisch, unverantwortlich und womöglich der Grund dafür, weshalb Francesca noch immer verliebt wie am ersten Tag an Marcos Lippen hing. Und nicht an seinen.
Ihm blieben zehn Minuten, bevor er sich als letzter Künstler an diesem Abend einem Publikum stellen würde, welches sich der künstlerischen Förderung körperlich und psychisch beeinträchtigter Mitbürger verschrieben hatte. Unter ihnen waren hochrangige Unterstützer, welche mit einem Handicap zur Welt gekommen waren und es dennoch geschafft hatten, sich an die Spitze der kulturellen Gesellschaft zu arbeiten. Die Künstler selbst waren nicht frei von solcherlei Schwächen.
Er eingeschlossen.
Doch es ging nicht darum, sich in den Vordergrund zu spielen und Mitleid zu heischen. Jeder hier war seines eigenen Erfolges Schmied, ob mit oder ohne Hilfe war nicht von Belang. Worauf es Leo ankam, war einzig der Klang des Moments. Drei Minuten der unantastbaren inneren Stille, der spürbaren äußeren Lautstärke und losgelösten Gefühle. All diese Menschen hatten sich an diesem Ort versammelt, um ihn und seine Vorgänger spielen zu hören. Ob auf dem Klavier, dem Cello oder mithilfe einer begeisternden Stimme. Es war die Musik, welche in allen Herzen ihre Signatur hinterließ. Er hatte die seine ausschließlich für diese drei Minuten über eine Woche lang perfektioniert.
Als es klopfte, drehte er sich um. Die Tür zum Vorbereitungsraum öffnete sich einen Spalt breit und das Gesicht des Tontechnikassistenten wurde ins warme Licht der Deckenleuchte getaucht.
»Leonhard, Sibylle ist fast durch mit ihrer Arie. Bist du fertig?«
»Japp, komme gleich mit.«
Er warf noch einen Blick in den Spiegel und streckte die Zunge raus; das war mittlerweile zu einer Art Ritual vor Auftritten geworden. Oder einer Nervositätsgeste. Derjenige, der seine Mimik erwiderte, konnte es ihm auch nicht sagen.
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»Wo sind deine Noten?«, fragte der Tontechniker, während sie dem Gang zur Bühne folgten. Leo hörte bereits Sibylle Tysens atemberaubende Stimme.
»Das passt schon«, meinte er und setzte den Zeigefinger an seine Stirn. »Alles hier drin.«
Der Tontechniker pfiff anerkennend. »Echt, auswendig gelernt? Könnte ich nicht. Hast du keine Angst, auf der Bühne 'nen Blackout zu haben?«
Leo schmunzelte. Als ob er jemals auch nur eine Note seines Lieblingsliedes verkannt hätte. Warum sollte es bei diesem Stück anders sein?
»Keine Sorge, ist mir noch nie passiert. Selbst wenn, würde ich einfach weiterspielen.«
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All Eyes On Me [1]
Roman d'amour»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...