Leos Finger lösten sich von Kasimirs Handrücken und er trat einen Schritt zurück, woraufhin Kasimir sein Spiel einstellte.
Was war das eben gewesen?
»Entschuldige ...«, sagte Leo zögerlich. »Jetzt bin ich dir ein bisschen zu sehr auf die Pelle gerückt, oder?«
Kasimir antwortete nicht. Leo biss sich verlegen auf die Unterlippe.
»Aber, ähm ... ich glaube, du hast verstanden, warum ich das gemacht habe. Der Klang hat sich verändert, du schienst mir die Bilder zu sehen, die du gespielt hast. Das war gut, wirklich. Viel besser als davor.«
Nun nickte Kasimir immerhin. Das Letzte, was Leo wollte, war, ihn einen Tag vor seinem Auftritt mit seiner Trampeligkeit zu verstören. Ihm war bewusst, dass er mit körperlicher Nähe schlecht umgehen konnte. Irgendwie hatte er sich von seinem Spiel vollkommen vereinnahmen lassen.
Leo trottete unschlüssig zurück zu seinem Stuhl und ließ sich darauf nieder. Er hatte zwar exakt das erreicht, was er sich vorgestellt hatte, dennoch blieb ein eigenartiges Gefühl in ihm zurück.
»Okay, also ... Willst du es nochmal probieren?«
»Nein. Ich glaube, das reicht.«
»Ja ... Ja, denke ich auch.«
Leo gehörte für gewöhnlich nicht zu der Sorte Mensch, der so leicht die Worte ausgingen, doch im Augenblick wusste er einfach nichts zu sagen. Umso mehr überraschte ihn, dass Kasimir gegensätzlich reagierte.
»Und du?«, fragte er, ohne sich umzuwenden. »Willst du dein Air nochmal üben?«
»Ach so, ähm ... Nein, muss nicht sein. Wenn wir fertig sind, würde ich mich lieber zuhause an meine Abschlusskomposition setzen. Ich meine, ich gehe echt nicht davon aus, dass ich es ins Finale schaffe, immerhin ist Dawid in meiner Gruppe. Aber sicher ist sicher.«
»Ich kann dir helfen. Falls du nicht weiterkommst.«
»Nee, schon gut. Ich will es diesmal alleine schaffen. Zeitlich passt das alles noch ...«
Daraufhin drehte sich Kasimir zu ihm um. Er lächelte zwar nicht, aber irgendetwas schien sich an seinem Blick verändert zu haben. Sein Fokus wirkte intensiv und ruhte allein auf ihm, und Leo konnte nicht anders, als etwas verschämt zur Seite zu sehen. Dabei war es ihm bislang nie schwergefallen, Kasimir direkt in die Augen zu blicken.
»Dann lassen wir es für heute bleiben?«
»Ja, ist besser«, erwiderte Leo und musterte seine Fingerspitzen. »Früh ins Bett gehen, morgen um zehn geht's schon wieder los ...«
Was war das? Wohin war seine Redseligkeit verschwunden, seine Selbstsicherheit? Waren sie in der Wärme verglüht, die Leo noch immer in seinen Handflächen spürte?
Warum hatte ihn Kasimirs Nähe dermaßen aus dem Konzept gebracht?
🎵🎵🎵
Als sie die Kapelle verließen, war der Himmel über ihnen tiefschwarz. Auf Sterne hoffte Leo im Lichtsmog der Stadt vergeblich, dafür erleuchteten ewige Lichter die Gräber jenseits des Kieswegs. Er kam nicht umhin, dieses faszinierende Schauspiel zu betrachten und blieb einige Sekunden vor der Kapellentür stehen.
»Echt schön«, sagte er. Kasimir nickte und ließ seinen Blick abwesend über die dunkle Kulisse schweifen. Leo erwischte sich dabei, unwillkürlich sein Profil zu mustern. Er hatte eine recht markante Nase, die allerdings sehr gut zum schmalen Schnitt seines Gesichtes passte. Die schwarzen Strähnen fielen ihm tatsächlich etwas punkig in die Stirn.
»Sag mal«, begann er, um sich von seinen ziellosen Gedanken abzubringen, »liegt deine Oma eigentlich auf diesem Friedhof?«
»Ja. Weiter hinten. Bin selten dort.«
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All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...