Kasimir fühlte, wie die Noten durch seine Finger flossen und an den Tasten zerschellten. Wie klanggefüllte Tränen rannen sie über die Klaviatur und verloren sich in der Stille. Sie ließ die Luft in der Kapelle herabsinken wie einen hölzernen Sarg in das ausgehobene Grab.
Als der Hall seine Wirkung lange genug entfaltet hatte, drehte er sich zu seiner Schwester um.
»Und?«
»Hm«, murmelte Cecilie, während sie mit starrem Blick ihren Nintendo DS massakrierte. »Nicht so toll.«
»Warum? Herr Wentzel sagt, ›Lacrimosa‹ ist ein Stück, das jeden berührt.«
»Kann sein. Du spielst aber nicht auf einer Beerdigung, sondern willst Oma ein Geburtstagsständchen bringen. Ein Requiem ist voll daneben ... ach, verdammt, jetzt hab ich vergessen, das Bonus-Package zu öffnen ...«
»Dann mach dein doofes Spiel doch aus und hör mir zu«, murrte er und wartete, bis Cecilie seufzend ihren Handheld geschlossen neben sich auf den Stuhl gelegt hatte, ehe er sich wieder dem alten Blüthner zuwandte. »Wie wäre es damit?«
Mit dem ›Rondo Alla Turca‹ konnte er eigentlich nichts falsch machen. Es klang verspielt und bot zugleich ein gutes Training für seine Fingerfertigkeit. Oma würde das bestimmt gefallen. Damit konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Allerdings nicht, wenn es nach Cecilie ging.
»Nee. Blöd.«
Kasimir pausierte sein Spiel und drehte sich widerwillig zu seiner großen Schwester um. »Wieso? Das klingt total cool.«
»Ja, aber es ist viel zu schnell für dich.«
»Ist es nicht.«
»Und warum verspielst du dich dann ständig?«
Ihre müde hochgezogenen Brauen machten ihn innerlich fuchsteufelswild, doch er versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken lassen. Wenn es hart auf hart kam, zog er gegen Cecilies Kampfgewicht immer den Kürzeren.
»Ich muss das bloß üben ...«
»Mach's dir doch nicht so schwer«, seufzte sie. »Du musst Oma nicht beweisen, was für komplizierte Lieder du spielen kannst. Vor allem, wenn du es eben nicht kannst. Es ist nicht jeder ein geborenes Genie wie dieser ... na, wie hieß er gleich ... der mit den Schokokugeln ...«
»Mozart?«
»Genau der«, gab Cecilie fingerschnipsend zurück und grinste ihn breit an. »Du bist erst zehn, also darfst du auch wie ein Zehnjähriger spielen.«
Kasimir musterte sie betreten und senkte den Blick auf seine rau gespielten Hände.
»Mozart hat seine erste Sinfonie schon mit acht geschrieben.«
»Sagt wer? Wikipedia?«, konterte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Selbst wenn, was hat er nun davon? Sein Gesicht auf 'ner Pralinenschachtel. Willst du das?«
»Nein, aber ...«
»Du musst nicht versuchen, besser zu sein als jemand, den du bewunderst. Niemand kann das, was du tust, so wie du. Mozartkugel spielt anders als Bach, und der spielt anders als Shopping.«
»Chopin ...«
»Ja, du verstehst doch, was ich sagen will. Zwing dich nicht zu etwas, womit du einem anderen eine Freude machen willst. Nur wenn es dir selbst gefällt, wird es auch dein Gegenüber berühren.«
DU LIEST GERADE
All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...