Die Hoffnung war ein launischer kleiner Vogel. Frech wie ein Spatz, bunt geschippert wie ein Papagei. Und ähnlich einem Habicht stets auf der Lauer nach unachtsamer Beute.
Leo hatte immer das Gefühl gehabt, dass ihm ein ganzer Schwarm dieser wilden Zeitgenossen um den Kopf schwirrte. Einer von ihnen war die Aussicht, eines Tages Buchstaben und Zahlen wie jeder normale Mensch zuordnen zu können. Ein weiterer der feste Glaube, dass er irgendwann erkennen würde, was die Zukunft für ihn bereithielt. Und nicht zuletzt die fein tschilpende Zuversicht, dass das Mädchen, welchem er seinen Herzschlag gewidmet hatte, seine Liebe erwidern würde.
Bisher hatte er jedoch keines dieser störrischen Federviecher einfangen können.
Ob er sie nun mit Mozart, Rubinstein oder Skrjabin lockte – Franna hörte ihm nicht zu. In ihren Ohren waren seine Komplimente nur ein nerviges Zwitschern und seine Gesten erschienen nichtssagend wie der gefaltete Schweif eines Pfaus. Trotzdem hatte Leo seine Freizeit an ihre Träume verkauft und immer geglaubt, dass sein Federkleid eines Tages so farbenfroh strahlen würde, dass sie nichts mehr außer ihm sehen würde.
Doch warum sollte man sich nach einem Wellensittich umschauen, wenn einen nur Kraniche und Seeadler interessierten?
Dieser zermürbenden Gewissheit war viele Jahre nur ein Lied wirklich gerecht geworden. Eines, das wild über die Notenlinien flatterte und dennoch im geschmeidigen Gleitflug seinem Motiv folgte. Ein Tanz von Kummer und Sehnsucht, der Leo behutsam durch seine Trübsinnigkeit geführt hatte. Er fühlte sich verstanden von Kreislers verträumter Melancholie, die so tief in sein Herz vorgedrungen war, dass sie einst zu seinem Lieblingslied geworden war.
Seinem ›Liebesleid‹.
»Er macht ziemlich viele Fehler ...«, wisperte Paula. »Ungewöhnlich für Kasimir. Aber der Mittelteil ist natürlich sehr schwer ...«
Nein, nicht schwer. Er war virtuos. Ein Kolibri in einem Zug Wildgänse, deren schwere Flügelschläge ihn durch die Lüfte schubsten. Es war stürmisch und kalt, doch er trotzte allen Widrigkeiten und kämpfte sich in halsbrecherische Höhen, um die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Nicht als quasselnder Paradiesvogel, der um die Lacher seiner Artgenossen buhlen musste. Sondern als Blickfang für jemandem, der nicht müde war, aufzusehen und nach dem smaragdgrünen Funkeln seiner Tracht Ausschau zu halten.
»Das macht er mit Absicht«, meinte Dawid und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er verspielt sich an völlig untypischen Stellen. Keine Ahnung, was das soll, aber mit der Nummer versaut er sich sein letztes Quäntchen Vorsprung.«
»Auch ein Möchtegern-Beethoven muss seine Stücke üben, ehe er sie vor Publikum präsentiert«, gab Franna unbeeindruckt zurück. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihm seine Arroganz auf die Füße fällt.«
Nein, so war es nicht. Sie bemerkte sie nicht. Die Schwermut, die Kasimir in jeden Dreiklang legte. Das unscheinbare Zucken seiner Lider, wenn er einen Abschnitt erreichte, der ihm besonders nahe ging. Er verlor sich auf seinem Weg durch den Irrgarten der Melodie, schlug einen falschen Akkord an und geriet vor einer technischen Fallgrube aus dem Rhythmus. Doch er tat es weder absichtlich noch aufgrund schlechter Vorbereitung.
Er konnte nicht anders. Diese Interpretation war der Ausdruck seines Innersten. Sein persönliches Liebesleid. Er nahm das Publikum mit auf seine Achterbahnfahrt der Emotionen. Er ließ Leo begreifen, wie es sich anfühlte, seinen rasenden Herzschlag vor dem Looping unter Kontrolle halten zu müssen. Er spürte seine ständige Angst, dass sich die Haltebögen lösten. Übelkeit in den Kurven, kalte Nervosität angesichts der schwindelerregenden Höhe. Sein Adrenalinspiegel schwappte über, als er den höchsten Punkt erreichte. Und Kasimir ließ ihn am eigenen Leib erfahren, wie tief sich der Schmerz fraß, wenn seine Erwartungen enttäuscht wurden und er ungebremst zwanzig Meter in die Tiefe rauschte.
Es tat weh. Es zerriss ihn fast.
»Wie findest du es, Leo?«, fragte Paula und tippte ihm vorsichtig an die Schulter. Er wandte sich ihr zu, doch ihm kam kein Wort über die Lippen. Weil er selbst nicht wusste, was dieses Lied mit ihm machte.
Kasimir nahm ihn mit auf seine Reise. Er ließ ihn mit seinen Augen sehen und teilte seine tiefsten Gefühle mit ihm. Aufregung. Euphorie. Verlustangst. Resignation. Mit jedem Akkord, den er anschlug, bestimmte er das Tempo der Fahrt neu. Seine kreativen Stimmungswechsel fügten unerwartete Streckenabschnitte hinzu. Die affektierten Fehler wirkten wie kurze Bremsmanöver, damit ihr Wagen nicht entgleiste. Doch ganz gleich, wie sehr er dieses Stück auch mit seinen Empfindungen verbog: Sie waren letztlich bedeutungslos. Sobald der Wagen hielt und die Gurtschlösser klackten, blieb nichts außer der grauen Erinnerung an einen Moment, der das Herz hätte ergreifen können. Wenn die Fahrt nie zu Ende gegangen wäre.
Leos Atem ging so flach, dass er ihn kaum mehr wahrnahm. Zu sehr berührte ihn dieses Stück. Verwirrte ihn. Betrübte ihn, aber nur so tief, wie Kasimir es zuließ. Es ließ ihn innerlich zappeln, während sein Körper starr auf diesem Platz ausharrte. Erfüllt von einer Ungewissheit, die ihn völlig aus der Bahn warf.
Was fühlte er? Wer war dieser Junge wirklich für ihn?
Der Geist hinter einer Melodie, die Liebesleid bereits vor Jahren aus seinem Herzen verdrängt hatte? Oder war sein Spiel der Schlüssel zu einer Tür, vor welcher Leo seit jeher wartete? Darauf, dass jemand sie aufschloss und all seine Hoffnungsvögel aus ihrem Herzkäfig befreite. Jemand, der ihn sehen konnte. Jemand, der ihn verstehen wollte. Nicht seine Familie, nicht das Klavier. Nicht Franna.
Jemand anders.
»Tja, schade«, sagte Dawid, als Kasimir zur furiosen Kadenz überging. »Da verflüchtigt sich das Preisgeld im Orbit.«
»Ich hoffe, dass die Jury seine Fehler nicht so streng bestraft«, meinte Paula und erhob vorsorglich die Hände zum Applaus.
»Mit diesem Lied ist er wieder in sein altes, nichtssagendes Muster zurückgefallen«, gab Franna zurück. »Das wird ihn vermutlich den Sieg kosten. Glück für dich ... Leo?«
Der Applaus setzte ein. Laut, bunt und grell. So intensiv, dass seine Sinne verrücktspielten. All die bunten Vögel verließen seine Seele und flatterten in die Freiheit. Nur ein einziger blieb zurück. Einer, dessen schwarzes Gefieder im Scheinwerferlicht so bunt changierte, dass Leo, obwohl seine Augen brannten, den Blick nicht abwenden konnte.
Von seinem Raben.
Er wollte applaudieren, doch seine Finger krallten sich ans Sitzpolster. Sein Blick haftete an der Silhouette des Flügels. Und seine Augen gaben letztlich der Drohung des Pianisten nach.
Leo hätte niemals gedacht, dass ihn sein Klavierspiel einmal zu Tränen rühren würde. Aber wie hätte er es auch ahnen sollen?
Wie ergreifend es war. Wie schmerzhaft es war. Und wie unbegreiflich schön es sich anfühlte.
Aus tiefstem Herzen und bedingungslos von jemandem geliebt zu werden.
🎵🎵🎵
Liebesleid – Fritz Kreisler (1905), Klaviertranskription Sergei Rachmaninow (1932)
https://www.youtube.com/watch?v=ZFvx32SjAtE
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All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...