Seine Finger zitterten, als er die Zigarette zum Mund führte. Der Rauch aus seiner Lunge verlor sich im Nebel, der sich über die Gräber gelegt hatte; es war eine gespenstische Stimmung. Das beunruhigte Kasimir allerdings nicht. Er hatte sich nie vor der Düsternis gefürchtet.
Sie begleitete ihn seit seiner Geburt; verschleierte vor aller Augen, wer er war und von wem er abstammte. Niemand konnte sehen, was seiner Mutter angetan worden war, damit er das Licht der Welt hatte erblicken können. Vielleicht fühlte er sich deshalb schuldig, wenn das Leben plötzlich einen Scheinwerfer auf ihn richtete und verlangte, dass er im Lichtkegel zu strahlen begann. Zwar hatte er jahrelang davon geträumt, doch in Wahrheit konnte er die Helligkeit, in welcher sich all seine Ängste offenbarten, nicht ertragen.
Er saß auf der feuchten Bank vor der Kapelle und wechselte alle paar Züge die Zigarette von links auf rechts, um sich mit der freien Hand über die Oberschenkel zu streichen. Es war verdammt kalt, aber er hatte die stickige Luft im Saal nicht mehr ausgehalten. Ebenso wie die bedrückende Stille, die entstanden war, nachdem er sein Lied zum dritten Mal nach sechzehn Takten abgebrochen hatte.
Die vergangenen Jahre hatten seine Fertigkeiten schlimmer beeinträchtigt als befürchtet. Ihm waren vor Wut Tränen in die Augen gestiegen, als sich trotz des langsamen Tempos immer noch Fehler an Fehler gereiht hatte. Dennoch hatte sich dieser Altruist erdreistet, ihm nach jedem katastrophalen Versuch zu applaudieren. Als hätte er etwas Großartiges vollbracht, amateurhaft ein paar Noten herunterzuklimpern. In Leonhard Valentins Augen war er wahrscheinlich nicht mehr als ein bemitleidenswerter Verlierer, den es für jeden Atemzug zu loben galt. Aber so würde er nicht mit sich umspringen lassen. Dieser Typ konnte ihn kreuzweise.
Als er das Knarren der Zugangstür zur Kapelle vernahm, seufzte Kasimir und ließ seinen Kopf vor die Brust sinken. Er wollte nicht belehrt werden, weder von diesem Kerl, Cecilie oder ihrem Holzkopf von Verlobten. Er hatte genug.
»Spar's dir«, sagte er gerade so laut, dass Leonhard es hören konnte. »Ich brauch keine Predigt. Geh wieder rein. Oder hau einfach ab.«
Das Knirschen des Kieses verstummte hinter der Bank. Kasimir drehte sich nicht um; die Enttäuschung hatte sich zu tief in sein Ego gefressen, als dass er Leonhard ohne weiteres in die Augen blicken könnte. Als er jedoch etwas Warmes um die Schultern spürte, richtete er sich überrascht auf.
»Kalt hier draußen, nicht?«, sagte Leonhard schmunzelnd und ließ sich neben ihm nieder, zog ein Stück der mitgebrachten Decke zu sich und legte sie ebenfalls über seine Schultern. Kasimir rückte instinktiv ein paar Zentimeter von ihm weg.
»Dann geh rein.«
»Wozu? Ich bin hier, um dich spielen zu hören. Wenn du nicht am Klavier sitzt, hab ich dort drinnen nichts verloren.«
Kasimir zischte und senkte den Blick auf seine fröstelnden Hände. Früher hätte er mit Sicherheit Handschuhe getragen, damit sie während der Pause nicht auskühlten. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass Leonhard derselben Logik folgte; seine Finger steckten in dicken roten Fäustlingen. Es sah albern aus und unterstrich seinen geschmacklosen Kleidungsstil, allerdings verspürte Kasimir beinahe eine Art Bewunderung für seinen Mut, sich keinen Deut darum zu scheren, was andere Menschen von ihm dachten. Diese Einstellung definierte auch Leonhards vereinnahmendes Klavierspiel.
Beim Gedanken daran veratmete sich Kasimir und musste husten. Als er daraufhin eine Berührung auf seinem Rücken spürte, hielt er inne und wandte sich irritiert seinem Sitznachbarn zu, der lächelte, als hätte er soeben einen bemitleidenswerten Witz gehört.
»Hast du's mal mit E-Zigaretten probiert? Die sind im Moment ziemlich angesagt. Franna schwärmt davon, seit Marco darauf umgestiegen ist. Sie sagt, dass seine Küsse jetzt nach Himbeere-Aronia schmecken würden ...«
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All Eyes On Me [1]
عاطفية»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...