Als er die gusseisernen Torbögen durch die Windschutzscheibe erkannte, fühlte sich Leo zurückerinnert an seine Grundschulzeit. Es war ein evangelisches Haus gewesen, an welchem milder und individuell fördernder mit den Leistungsschwächen der Schüler umgegangen wurde. Er wusste noch, dass er bis zur vierten Klasse bunte Memorykarten vorgelegt bekommen hatte, auf denen ein Bild und der dazugehörige Begriff abgedruckt waren. Jeden Nachmittag, anderthalb Stunden lang, während die anderen Kinder auf dem Hof Fangen und Verstecken gespielt hatten. Vielleicht war es ihm deshalb schwer gefallen, Anschluss zu finden. Unter vielen besonderen Kindern war er immer das sonderliche gewesen.
Das klickende Geräusch des Blinkers löste ihn aus seinen Gedanken. Francesca manövrierte den Wagen in eine Parklücke vor dem Eingang des Friedhofs.
»Endstation«, sagte sie und betrachtete argwöhnisch das Schild mit den Besichtigungszeiten der alten Kapelle. Sie öffnete nur noch freitags von 10 bis 12 Uhr. Heute war Sonntag.
»Sicher, dass das hier nichts Illegales wird? Will er dich in eine Falle locken?«
»Ich hab ihn hierher bestellt«, antwortete Leo schmunzelnd und löste seinen Sicherheitsgurt. »Seine Schwester meinte, sie hätte einen Deal mit der Verwaltung. Solange wir die Einrichtung nicht demolieren, ist alles im grünen Bereich.«
»Toll. Du hast am eigenen Leib erfahren, wie gut sich dieser Typ im Griff hat. Ich würde für nichts garantieren. Und was mir an dieser ganzen Aktion überhaupt nicht gefällt, ist, dass dir niemand helfen kann, wenn er freidreht ...«
»Ich kann auf mich aufpassen«, erwiderte er und verdrehte die Augen. Was sollte Kasimir denn schlimmstenfalls mit ihm anstellen? Ihm den Klavierhocker über die Rübe zimmern?
»Das setze ich voraus. Wir sind Geschäftspartner und ich habe noch Großes mit dir vor. Mir ist schleierhaft, weshalb du deine wertvolle Freizeit mit diesem Emo-Freak vergeuden musst, aber ich kann dich wohl kaum davon abhalten.«
»Richtig«, antwortete er lächelnd. »Als Geschäftspartnerin nicht.«
Er verlieh seinen Worten eine besondere Betonung, was er gleich bereute, als sie ihn skeptisch musterte. Eilig erfasste er den Türgriff und stieg aus. Die kühle Februarluft fröstelte ihn sofort durch seine dünne Windjacke.
»Wann soll ich dich wieder abholen?«, fragte Francesca durch die geöffnete Scheibe.
»Gar nicht. Ich nehm den Bus zurück.«
»Kriegst du das hin? Du kennst die Strecke nicht, oder? Hier fahren drei Linien in die verschiedensten Richtungen, wenn du wieder die Zahlen verdrehst ...«
»Wird nicht passieren«, sagte Leo mit angekratztem Stolz. Sie traute ihm auch gar nichts zu. Als hätte er den IQ einer künstlerisch begabten Weinbergschnecke.
»Bene«, brummte sie und setzte den Blinker zur Straße hin. »Dann mach das Beste draus. Und wenn er Probleme macht, ruf mich sofort an. Oder besser gleich die Polizei.«
🎵🎵🎵
Er winkte ihr mit einem betretenen Lächeln, ehe er sich abwandte und das Friedhofsgelände betrat.
Löcher in der Rasenfläche und die verdorrten Äste der Koniferen zeugten noch vom bitterkalten Winter, dessen Temperaturen sich hartnäckig hielten. Leo verschränkte die Arme vor der Brust und folgte zügig dem Kiesweg, um sich warm zu halten. Er war davon ausgegangen, dass sich die Kapelle unmittelbar hinter dem Eingang befand, so hatte es jedenfalls in Kasimirs einsilbiger Beschreibung geklungen. Dreihundert Meter Fußweg hätte er anders definiert.
Das Gebäude mutete kleiner an als ein Einfamilienhaus. Es hatte eine ovale Kuppel und war ringsum von bunt gekachelten Fenstern gesäumt. Die Eingangstür war aus massivem Holz gefertigt, wenn auch recht schmal, das erkannte er sogar aus der Ferne. Außerdem stand eine Person ganz in der Nähe, die seinen Fokus auf diesen Ort bündelte.
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All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...