{71} Easy, pt. 5

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Kasimirs Atemzüge verlangsamten sich. Leonhard trat so achtsam vor den Flügel, als folgte er den festgelegten Riten einer Zeremonie. Die Ruhe, die ihn umgab, schien den gesamten Saal zu vereinnahmen. Kurz vor einem Auftritt wirkte er stets so in sich gekehrt und anmutig, dass niemand auf die Idee kommen konnte, was für ein farbenfroher Kristall in seinem Inneren heranwuchs. Diese Facette seiner Persönlichkeit begann erst zu funkeln, wenn man sie mit dem Herzen betrachtete.

Das war der Grund, weshalb sich Kasimir jahrelang vom scharf reflektierenden Glanz seiner Show hatte blenden lassen. Er hatte die Person Leonhard Valentin oberflächlich aufs Tiefste verabscheut, während ihn die Interpretation seines Liedes so fest ergriffen hatte, dass er mit seinen Empfindungen heillos überfordert gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt hätte Kasimir die ungezwungene Art, wie Leonhard sich verbeugte, sich am Flügel niederließ und schmunzelnd die Finger auf die Klaviatur legte, als arrogantes Schauspiel abgetan und nichts als Missgunst empfunden.

Heute konnte er nicht mehr die Augen von ihm lassen.

»Starr ihn nicht an, als würdest du ihn gleich vernaschen wollen.«

Kasimir zuckte zusammen. Zwar hatte Dawid die Worte nur geflüstert, doch er fühlte sich, als hätte ihn das halbe Auditorium gehört. Kurz darauf spürte er Dawids Hand auf seinem Knie.

»Reiß dich zusammen. Wie willst du gegen den Publikumsliebling in persona ankommen, wenn du ihn nicht eine Sekunde lang als Gegner betrachten kannst?«

»Kann dir egal sein«, murmelte Kasimir und schob seine Hand beiseite. Er hatte es satt, seine Gefühle dem Schein zuliebe hinter einer Maske geheuchelten Konkurrenzdenkens verstecken zu müssen. Nach Leonhards Worten gelang ihm das ohnehin nicht mehr.

»Oh, da irrst du dich. Wir sitzen beide im selben Boot. Ich muss sichergehen können, dass du mich nicht vor aller Welt blamierst, wenn wir gemeinsam auf der Bühne stehen. Dir ist klar, dass ich einen Ruf zu verlieren habe?«

»Niemand zwingt dich. Wenn du nicht auftreten willst, spiele ich das Stück alleine.«

»Haha, das könnte dir so passen«, erwiderte Dawid und lehnte sich so weit zu ihm herüber, dass er seinen Atem am Hals spüren konnte. »Sei mir lieber dankbar, dass ich zu dir halte. Nachdem du offenbar neben dem Rest der Welt sogar deine süße Schwester vergrault hast, bin ich der Einzige hier, auf den du zählen kannst.«

Dawids Unterton brachte Kasimir auf die Palme, doch er ließ sich nichts anmerken. Stattdessen blickte er ans Ende der Sitzreihe. Er hatte Cecilies und Thomas' Standort erst ausfindig gemacht, als er das Altarplateau verlassen hatte. Der rechte Abstieg mündete direkt vor ihren Füßen. Kasimir hatte sich einem mehr als anklagenden Gesichtsausdruck seiner Schwester ausgesetzt gefühlt, als er wortlos an ihr vorbeigetreten war. Dieser Moment hatte ihnen beiden schwer zugesetzt. Doch er war nicht von Dauer. Sie musste sich nur noch ein paar Minuten gedulden, dann konnte er ihr alles sagen, was ihm auf dem Herzen lag.

Während ihrem Verlobten beinahe die Augen zufielen, schien Cecilie Leonhards Auftaktstück gebannt zu verfolgen. Das musste Kasimir ihr zugutehalten. Obwohl sie nichts von klassischer Musik verstand, hatte sie niemals genörgelt, wenn seine Großmutter früher stundenlang von seinem Spiel geschwärmt hatte. Es war ihr nie zu viel geworden, ihn mit ihrer klapprigen Schwalbe zur Kapelle zu fahren und spät abends wieder abzuholen. Jahr für Jahr hatte sie Lobpreisungen ertragen, die nicht ihr zuteilwurden. Tief in sich wusste er, dass er ihr mit seiner derzeitigen Ignoranz mehr zumutete als all diese Ereignisse zusammen. Sein Blick sank langsam auf seine Fingerspitzen.

»Nicht doch, habe ich dir die Laune verdorben?«, meinte Dawid und piekte ihn amüsiert in die Seite.

»Sei einfach still.«

»Kopf hoch, Hasi. Die wird schon wieder ausschnappen, sobald du am Flügel sitzt und deinem hübschen Blondchen zeigst, wie man richtig Klavier spielt. Ich meine, ist ja ganz niedlich, dass er sich an technisch anspruchsvollen Werken versucht, aber seien wir mal ehrlich: Ein paar flott gespielte Präludien reichen nicht aus. Er müsste schon die Black Keys bringen, um den Rückstand auf dich zu verkürzen. Diesen Spaß gewinnst du mit Leichtigkeit.«

Dawid lehnte sich zurück und widmete sich wieder Leonhards Darbietung. Er schien glücklicherweise keine Antwort zu erwarten. Denn wenn er wüsste, wie falsch er mit dieser Annahme lag, hätte sich Kasimir wohl kurzfristig nach einer neuen Begleitung für sein modernes Arrangement umsehen dürfen.


🎵🎵🎵


Leonhard spielte seinen klassischen Part fehlerfrei und in einem beeindruckenden Tempo. Rachmaninows fünftes Prélude galt mit seinem akzentuierten Dreitonmotiv ohnehin als dramatisches Stück. Leonhard brachte es jedoch fertig, das marschähnliche Hauptthema in eine wilde Hetzjagd zu verwandeln, die Kasimirs Herzschlag vor sich hertrieb. Er fühlte sich über die Länge des Stückes wie ein Feldhase, der auf der Flucht vor einem außer Kontrolle geratenen Flächenbrand über seine Läufe stolperte, während die Flammen seine Heimat verschlangen. Bachs Präludium versengte sein verrauchtes Fell mit spitzen Funken, und die Fuge erschien ihm wie eine Fata Morgana am Horizont, welche ihn nur tiefer ins Unheil lockte.

Obwohl ihn seine atemlose Interpretation beeindruckte, spürte Kasimir, dass Leonhard die Gefühlstiefe, die sein Spiel so einzigartig machte, in diesem Tempo nicht erreichte. Er verfiel dem Rausch der Geschwindigkeit, bot seinem Publikum eine schwindelerregende, unterhaltsame Show. Doch es waren nicht seine Stücke.

Kasimirs Nervosität stieg kontinuierlich an. Er hatte Leonhard mit seinen Liedvorgaben praktisch dazu gezwungen, virtuosere Pfade zu betreten, wenn er gegen ihn bestehen wollte. Und er fügte sich seinem Willen, spielte sich die Seele aus den Fingern und bot sein ganzes Können auf. Unter diesem Aspekt kam Kasimir sein tatsächliches Programm vor wie ein Schlag ins Gesicht.

Er strich mit den Händen über seine Oberschenkel und fokussierte seine Fingerspitzen. Sie ließen ihn nicht los. Leonhards verdammte Worte. Er war so aufrichtig fasziniert von Kasimirs Fertigkeiten, dass es ihm in der Seele brannte, ihn enttäuschen zu müssen. Am liebsten würde er dieses falsche Spiel überspringen oder es wenigstens für einen Moment lang ausblenden können. Aber das war unmöglich. Daran erinnerte ihn das unnachgiebige Absatztippen seiner Sitznachbarin. Und zwar mit jedem elenden Taktschlag.

»Kannst du nicht für eine Sekunde deinen Fuß ruhighalten?«, zischte Kasimir Francesca zu, als Leonhard bei seiner Interpretation von ›Summertime‹ angelangt war. Ihr abweisender Blick führte ihm vor Augen, dass er genauso gut einen Herzinfarkt hätte erleiden können; es hätte sie nicht weniger gekümmert.

»Wenn du dein schlechtes Gewissen nicht erträgst, sieh hinter dich«, wisperte sie und deutete unauffällig mit dem Daumen über ihre Schulter. »Vorletzte Reihe. Grüner Blazer und Hochsteckfrisur. Das ist sie.«

Kasimir wandte sich um und benötigte keine Sekunde, ehe er die Dame, die am heutigen Abend womöglich über seine soziale Aufwertung entschied, ausgemacht hatte.

»Sie ist Profipianistin und verantwortlich für die Studienplatzvergabe im Bereich Tasteninstrumente. Sie kann deine Leistung genau beurteilen. Wenn man sie als solche bezeichnen mag.«

Sie verlieh ihren Worten einen derart zynischen Unterton, dass Kasimir ausblendete, wie Leonhard zur Schlusssequenz überging.

»Was glaubst du eigentlich, was ich hier tue? Dieser ganze Mist war deine Idee.«

Francesca verdrehte die Augen.

»Richtig, und ich habe dich vor ihr als hervorragenden Pianisten angepriesen. Mit halbherzigem Geklimper wirst du sie nicht von dir überzeugen können. Du musst alles zeigen, was du kannst, und gleichzeitig gegen Leo verlieren. Mich interessiert, wie du das mit Beethoven und Chopin anstellen willst.«

»Ganz einfach«, sagte er und wandte sich wieder Leonhards flammendem Flügel zu, den er gleich zu Eis erstarren lassen würde. »Indem ich nicht Beethoven und Chopin spiele.«

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt