{63} Fuge

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Kasimir betrachtete sekundenlang das Display seines Smartphones. War das sein Ernst? Zwei gewonnene Komponistenwettbewerbe und dieser Pfeife fiel nichts Besseres ein?

»Leg' mal 'nen Zahn zu, Kleiner!«, hörte er Thomas Stimme durchs Treppenhaus schallen. »Ich will los.«

»Komme«, rief er, band sich die Laufschuhe zu und ließ die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen.

Auf seinem sechsstöckigen Weg nach unten ließ er sich Leonhards Titelvorschlag durch den Kopf gehen. Dafür, dass er erst eine halbe Stunde nach Erhalt der Nachricht geantwortet hatte, empfand Kasimir das Ergebnis als nicht besonders einfallsreich. Vielleicht hatte er nach über zwei Wochen Kontaktunterbrechung einfach zu viel erwartet.

Als er im Erdgeschoss ankam, dehnte Thomas gerade seine Oberschenkelmuskeln am Geländer. Cecilie stand neben ihm und stützte seine Waden, vermutlich, damit er nicht abrutschte und eine Zerrung riskierte. Kasimir hätte nichts dagegen gehabt, auf diese Weise wären ihm wenigstens die gemeinsamen Trainingseinheiten erspart geblieben, die er an seiner Schwester statt über sich ergehen lassen musste.

Als sie ihn am oberen Treppenabsatz erblickte, senkte Cecilie den Blick und gab vor, konzentriert die Faszien ihres Verlobten zu massieren. Kasimir wusste, wie sehr sie die anhaltende Funkstille zwischen sich und ihm belastete, aber er hatte ihr im Augenblick nichts zu sagen und auch kein Interesse daran, sich ihre Beteuerungen anzuhören.

»Du bist ja wieder farbenfroh unterwegs«, meinte Thomas, nachdem er seine Dehnungssession beendet und ausgiebig Kasimirs monochrom schwarzes Joggingoutfit gemustert hatte. »Warum hat das so lange gedauert? Vor dem Kleiderschrank wirst du dich wohl nicht aufgehalten haben.«

»Hab auf eine Nachricht gewartet«, erwiderte Kasimir und tat so, als würde er sich aufwärmen, um keine sportmotorische Sonntagspredigt seines Schwagers zu provozieren. Thomas' Grinsen erschien ihm allerdings auch nicht reizvoller.

»Was denn, Briefe von deinem Schatzi?«

»Er ist nicht mein Schatzi«, zischte Kasimir. »Und mit Briefen kannst du mir vom Hals bleiben ...«

Er spürte, dass seine Worte Cecilie genau dort trafen, wo es wehtat. Als sie betreten seinen Blick suchte, wandte er sich ab, tappte zur geöffneten Haustür und trat hinaus. Durch die Panzerglastür erkannte er noch, wie Thomas Cecilie einen Abschiedskuss gab, ihren Bauch tätschelte und ihr etwas zuraunte. Cecilies schwermütiger Blick ließ Kasimir ahnen, worum es sich handelte. Wenn Thomas jedoch glaubte, er könnte ihn während ihrer erzwungenen Zweisamkeit aushorchen, hatte er keine Vorstellung von Kasimirs derzeitigem Fitnessstand. Er würde ihm einfach davonlaufen, wenn er ihn bedrängte. Wegrennen konnte er wie kein Zweiter.

🎵🎵🎵

Sie liefen einen schmalen Pfad am äußeren Rand der Elbe entlang, welcher quer über die Schwemmwiesen führte. Vom Königsufer aus bot sich ihnen ein weiter Blick auf das Panorama der barocken Altstadt. Am gegenüberliegenden Terrassenufer standen Kirschbäume in voller Blüte, die Flussdampfer schipperten gemütlich ihre gewohnt einfallslose Route und die Eiscafés waren bereits zur Mittagsstunde voll besetzt. So sehr sich Kasimir auch gegen die Vorstellung aufgelehnt hatte, mit seinem unliebsamen Schwager eine zwölf Kilometer lange Laufstrecke zu bewältigen, er kam nicht umhin, den Anblick Schritt um Schritt zu genießen.

Auf Höhe des Japanischen Palais machten sie eine Pause. Während sich Thomas ein giftgrünes isotonisches Leistungssportlerfluid zuführte, ließ Kasimir seinen Blick über die Prachtbauten der gegenüberliegenden Elbseite schweifen. Ob es nun die Semperoper war, die Brühlschen Terrassen oder die Katholische Hofkirche, mit beinahe jedem dieser berühmten Orte verband er inzwischen Erinnerungen. Aufregung und Angst. Euphorie und Erstaunen. Sehnsucht. Diese Stadt hatte ihn auf ihre ganz eigenwillige Art und Weise zittern und jubeln lassen, seine Gefühlswelt bis an die Grenzen ausgereizt. Und nun stand er hier, betrachtete seinen steinigen Weg bis zu diesem Punkt aus der Ferne und wusste, dass nur noch ein einziges Gebäude von ihm erkundet werden musste, ehe er sein Ziel erreicht hatte.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt