{2} D-moll

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Ein Feldhase jagte davon, wenn der Fuchs aus seiner Deckung kroch. Ein Zwergkaninchen versteckte sich in seinem Häuschen, sobald Klein-Luzie mit »Hoppel« zu spielen gedachte.

Und was tat er?

Verharrte regungslos in der Tür, stellte sich tot in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden. Leider war er keine Note, die sich geisterhaft im Raum auflöste, sobald sie den Klangkörper verlassen hatte. Und noch weniger ein Hase, der losrannte, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlte. Denn diese Bedrohung hatte ihm bereits damals die Beine gelähmt.

»Oh, sorry«, sagte der Junge. Sein blondes Haar schimmerte in der späten Wintersonne. »Kann ich kurz durch?«

Er hielt einen roten Gitterkasten vor der Brust, hinter den Stäben raschelte es verdächtig. Aber das rührte Kasimir Hasenick nicht. Er starrte dem Jungen in die Augen und konnte seinen Körper nicht dazu bewegen, auch nur einen Zentimeter zur Seite zu treten.

»Alles okay ...?«

Nein. Die Musik dröhnte zu laut, der tosende Applaus zerdrosch ihm das Trommelfell. Die Scheinwerfer tauchten den Jungen vor ihm in gleißendes Rampenlicht, während er im Schatten des Vorhangs seine Komposition zusammenfaltete und in seiner Kunstledertasche verschwinden ließ.

»Geht's dir nicht gut?«

»Wo willst du hin?«, erwiderte Kasimir reflexhaft. Dabei lagen ihm viel mehr Worte auf der Zunge. Wie bei einer anspruchsvollen Arie wirbelten die Impulse durch seine Nervenbahnen und ließen seine Fingerspitzen erzittern.

»Was?«, erwiderte der Junge und grinste so flegelhaft wie damals, als er die Jury um den Finger gewickelt hatte. »Die kleine Hazel hier hat Milben, denen geht's an den Kragen. Hab allerdings 'nen straffen Zeitplan, also wär's echt nett, wenn du mich durchlässt, dann geb ich sie in ärztliche Obhut und bin gleich wieder weg. Okay?«

Sein Blick war bittend und fordernd zugleich. Braune Augen, so vertrauensselig wie ein Plüschhase. Siegessicher wie ein Löwe. Und dennoch listiger als eine Schlange.

»Wo willst du hin?«, wiederholte Kasimir und fing sich einen schiefen Blick ein. Sein Gegenüber musste ihn für ziemlich dämlich halten, aber das kümmerte ihn nicht. Er musste verhindern, dass er sein Haustier abgab und rechtzeitig den Bus erreichte. Weil er die Antwort auf seine Frage längst kannte.

»Ich habe ein Vorspiel«, gab der Junge zurück und klimperte mit den Fingern seiner freien Hand in der Luft. »Klavier. Der jährliche Talentwettbewerb im Konzertsaal der Zitadelle Harmonica, falls dir das was sagt. Ich wurde dieses Jahr zur Eröffnungsdarbietung verdonnert. Wenn ich zu spät komme, verzögern sich die Auftritte und alle haben schlechte Laune. Wäre mies, meinst du nicht?«

Und wenn schon. Er sprach, als wäre er ein berühmter Pianist, der seit Jahren nichts anderes tat, als durch die Welt zu reisen und musikalische Wettbewerbe zu gewinnen. Dabei war er vor fünf Wintern, als sie miteinander konkurriert hatten, gerade einmal zwölf Jahre alt gewesen und hatte seinen Fleiß, seine Mühen und letztlich ihn selbst mit einer einzigen perfekten Darbietung zu dem gemacht, als der er heute vor ihm stand. Einem ziellosen, sich selbst bemitleidenden Verlierer.

Einem scheuen Kaninchen.

»Ich ... kann das für dich machen«, sagte Kasimir. Der Junge musterte ihn skeptisch, also präzisierte er seine Aussage. »Ich lasse sie für dich behandeln. Dann schaffst du es zum Konzert.«

»Wie, ernsthaft? Wolltest du nicht eben gehen?«, erwiderte der Junge und betrachtete sein Sakko und den penibel gebundenen schwarzen Schlips. »Siehst auch aus, als wolltest du dich gleich an 'nen Flügel setzen.«

»Nein ...«, antwortete er und schluckte den Kloß herunter, der sich in seinem Hals festgesetzt hatte. »Ich hatte ein Vorstellungsgespräch. Ich arbeite jetzt hier.«

»Echt? Wow, herzlichen Glückwunsch. Dann ist Hazel ja praktisch deine erste Patientin. Super, was?«

Er hob den Käfig auf Höhe seines Gesichts und zog eine vergnügte Grimasse. Kasimir bezweifelte, dass das Kaninchen eine verwertbare Information aus seiner Mimik zog.

»Ich brauche noch deinen Namen«, sagte er kontrolliert ruhig, während der angestaute Missmut allmählich seine Stimmfarbe verfälschte. »Für die Kartei. Vor- und Zunamen.«

»Ach, klar. Leonhard Valentin. Kann dir auch 'ne Visitenkarte mit meiner Nummer geben, falls was sein sollte. Und wer bist du?«

Leonhard kramte in der Tasche seines Mantels und fischte ein Kärtchen hervor. Kasimir nahm den Papierstreifen mit den Fingerspitzen entgegen und behielt ihn in den Händen. Während Leonhard den Transportkäfig vor ihm auf dem Steinpodest abstellte, nahm er all seinen Mut zusammen.

»Du weißt genau ...«

Die Hupe des Busses unterbrach ihn und sie wandten sich zu dem brummenden Gefährt um. Leonhard kratzte sich am Hinterkopf. Kasimir biss sich auf die Lippen und schluckte alles, was er sagen wollte, herunter. Dann ergriff er den Henkel des Transportkäfigs.

»Du solltest dich beeilen«, sagte er und nickte zur Bushaltestelle.

»Ja, hast recht. Danke für deine Hilfe. Ich zeig mich später erkenntlich, okay?«, erwiderte Leonhard lächelnd, ehe er sich umwandte und auf die gegenüberliegende Straßenseite lief.

Kasimir beobachtete, wie er im Bus verschwand, dieser sich in Bewegung setzte und vom rastlosen Durcheinander des Nachmittagsverkehrs verschluckt wurde. Mit jeder verstreichenden Sekunde verblasste die Melodie in seinen Ohren und das Rauschen intensivierte sich. Fraß jeden Gedanken. Jede Hoffnung. Die Träume, die bis eben in seinem Kopf herumgespukt und lauter als jedes Orchester getönt hatten, erstarben binnen eines Wimpernschlages.

Genau wie damals.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt