{6} A-moll

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Es fiepte. Kasimir drehte sich auf die Seite und presste seinen Kopf tiefer ins Daunenkissen, doch es half nichts. Dieses Monstrum hatte seinen Handywecker manipuliert und auf höchster Lautstärke neu eingestellt. Nur auf welche verdammte Uhrzeit?

Er quälte sich in die Rückenlage und blinzelte. Hell war es jedenfalls. Beißend hell.

Blind tastete er nach seinem Smartphone, doch seine Schwester hatte es auf einem exponierten Platz niedergelegt, sodass er aufstehen und zu seiner Zimmerkommode trotten musste. Normalerweise weckte ihn Beethovens Mondscheinsonate frühestens halb elf. Dieses Mal zeigte das Display jedoch eine fett gedruckte 9 an. Eine gespeicherte Sprachnachricht blinkte knallig rot zwischen den Kacheln seiner Musik-Apps auf. Er rieb sich die Augen und zögerte einen Moment, ehe er sich dazu durchrang, die Botschaft abzuspielen.

»Liebster Bruder, einen wundervollen Morgen wünsche ich dir! Ich hoffe, du hast dich gut vom Ausschlafen erholt und bist voller Tatendrang, folgende kleine Aufgaben für mich zu erledigen: Erstens! Der Abwasch wartet seit fünf Tagen auf deinen Einsatz. Mit der Hand, klar? Außerdem mieft dein Langohr-Parasit in seinem zugemisteten Strohpalast vor sich hin, die ganze Küche stinkt. Also erinnere dich bitte deiner Pflichten als Hasenputze und schrubb ordentlich durch. Handschuhe, Mundschutz und Desinfektion für Hypochonder liegen auf dem Käfig. Denk dran, dir ein neues Rezept für die Tabletten ausstellen zu lassen. Und dann wäre da noch eine klitzekleine Sache: Hör gefälligst auf, den Fußboden mit deinen Notenblättern zu tapezieren! Wenn du weiterhin alles zumüllst, setz' ich dich vor die Tür und du kannst zusehen, wie du auf der Straße dein Kleingeld verdienst. Wenn du das vermeiden willst, bitte ich dich, heute Abend meine Schicht im Restaurant zu übernehmen. Habe schon alles mit Chefchen geklärt und dich als tüchtigen Kellner angepriesen. Wenn du mich nicht blamierst, habe ich eine kleine Geburtstagsüberraschung für dich. Ach, wo wir gerade dabei sind ...«

Er zuckte zusammen, als das Tuten einer Plastetröte sein Trommelfell attackierte.

»Happy Birthday wünschen dir Cecilie und dein Traumschwager Tommy! Auf dass du dieses Jahr endlich einen Job finden mögest!«

- Ende der Sprachnachricht. –

»Danke ...«, murmelte er, ließ das Smartphone zurück auf die Kommode sinken und fuhr sich mit den Fingern durchs zerzauste schwarze Haar. Er würde also auch an seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag nicht in die Verlegenheit kommen, seinen Tagesablauf selbst zu bestimmen. Im vergangenen Jahr war er dankbar gewesen, dass Cecilie ihn mit den billigsten Hausarbeiten davon abgelenkt hatte, nicht mehr an diesem dämlichen Wettbewerb teilnehmen zu können. Nie wieder konnte er die Schande bereinigen, gegen einen Zwölfjährigen verloren zu haben, obwohl er damals den Auftritt seines Lebens hingelegt hatte. Wie er es auch drehte, es war ein Trauerspiel, und jeder Valentinstag erinnerte ihn an diese beschämende Niederlage. Zwar hatten Cecilies Zerstreuungstaktiken seinen Geburtstagsdepressionen bislang entgegengewirkt, mittlerweile nahm ihre Fürsorge jedoch selbst für seine Verhältnisse überhand. Seit sie vor acht Monaten diesem muskelbepackten Proleten in die Arme gelaufen war und ganze zwölf Kilo geschmissen hatte, quoll ihre Motivation über, auch etwas in Kasimirs Leben zu verändern. Und als wären die gewöhnlichen Hürden des Alltags nicht schlimm genug, sollte er jetzt allen Ernstes ihren Kellnerjob übernehmen? Damit tat sie sich selbst keinen Gefallen. Er hatte in seinem Leben noch kein Tablett von A nach B transportiert und war hochgradig unmotiviert, verstrahlten Pärchen zur besten Sendezeit Speisen und Cocktails zu servieren. Cecilies Liebe zu diesem distanzgestörten Schwachkopf, den sie über einen E-Sports-Workshop kennengelernt hatte, betäubte offenbar ihren Realitätssinn. Mit dem Profit aus Thomas' Fitnessstudio war es egal, ob sie arbeitete oder nicht, er würde sie zweifellos aushalten. Für Kasimir bedeutete das im Umkehrschluss, dass er sich diesem Macho demnächst würde anbiedern müssen, wenn er nicht aus der Wohnung geworfen werden wollte. Bis jetzt bezahlte Cecilie allein mit ihrem Aushilfsgehalt tapfer die Miete für sie beide. Das wiederum machte es kaum verwunderlich, weshalb sie darauf pochte, dass er endlich eine Anstellung fand.

Er trottete ins Wohnzimmer und ließ sich auf Cecilies Zocker-Sofa sinken. Die kümmerlichen Reste ihres veganen Eintopfs standen noch auf dem Couchtisch, vermutlich hatten sie und Thomas den gestrigen Abend einvernehmlich Zombie-schlachtend verbracht. Kasimir klemmte die halbleeren Schüsseln zwischen seine Finger, lief in die Küche und vertraute sie dem radikalsten Reinigungsmodus der Spülmaschine an. Aufgabe eins wäre abgehakt.

Als er einen feinen Juckreiz in der Nase spürte, verfluchte er sich, nicht rechtzeitig für Tablettennachschub gesorgt zu haben. Sein Blick fiel auf den Käfig des einzigen Hausbewohners, den Kasimir noch schmarotzender einschätzte als sich selbst. Allerdings war es jenseits der schmalen Metallstäbe verdächtig ruhig. Das konnte nur eines bedeuten.

»Nicht dein verdammter Ernst ...«, wisperte er und war sich selbst nicht sicher, ob er nun seine Schwester meinte, die sorglos die Gittertür hatte offenstehen lassen, oder dieses durchtriebene Hasenvieh, das die Chance zur Flucht sofort genutzt hatte. Er sah sich in der Küche um, fand jedoch nur ein paar Strohhalme und krümelige Hinterlassenschaften auf den Fliesen, die eine Spur zum möglichen Aufenthaltsort des Flüchtigen hinterließen. Angewidert machte er einen großen Bogen um die Fäkalien und durchstöberte zunächst den Flur, dann das Wohnzimmer und schließlich Cecilies kitschig möblierte Räumlichkeiten. Bis auf zwei leere Proteindrinks und eine Packung Kondome auf dem Teppich wirkte alles wie gewohnt. Kasimir wurde schlecht beim Gedanken, dass sie mit diesem Kerl ungeniert Matratzensport betrieb, während er sich in der Wohnung aufhielt. Wesentlich beunruhigender war jedoch, dass jetzt nur noch ein Ort übrigblieb, an dem Hazel sich verschanzt haben konnte.

Mit angehaltenem Atem schlich er durch den Flur zu seiner Zimmertür und lugte hinein. Und tatsächlich, es drangen kaum hörbare Geräusche an sein Ohr. Ein Knistern. Nein, eher ein Schnurpsen. Das klang beinahe wie ...

Er drosch die Tür nach innen auf, stürzte hinein und fokussierte den Herd allen Übels – der sich von seiner filmreifen Einlage nicht bei der Einverleibung seiner vorgestern vollendeten Komposition unterbrechen ließ. Erst als Kasimir fluchend die Notenblätter zusammenklaubte, hielt Hazel in ihrer aktiven Kunstvertilgung inne und musterte ihn gelangweilt.

»Du blödes ... ist dir klar, wie lange ich für diese elende Fuge gebraucht habe?«

Selbst wenn, es war ihr vermutlich egal. Hazels Blick spiegelte ein Gemisch aus Desinteresse und Ignoranz wider, während Kasimir Tränen der Verzweiflung in die Augen stiegen, als er sein zur Hälfte zerfrästes Notenblatt aus einzeln verteilten Fetzen zusammenzusetzen versuchte.

Du hättest das Stück ohnehin nie gespielt, flüsterte eine garstige Stimme in seinem Kopf. Seit Jahren bist du kaum mehr in die Nähe eines Klaviers gekommen. Worüber regst du dich auf?

Ja, worüber? Dass dieses Vorspiel vielleicht der Schlüssel zur Tür gewesen wäre, deren Durchschreitung seiner Existenz wieder einen Wert verliehen hätte? Oder dass er es in zwei Jahren nicht fertiggebracht hatte, diesen zerstörerischen Hasen seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzubringen? Dann wäre sein Leben auf einen Schlag leichter gewesen. Er hätte sich nie wieder die Hände schmutzig machen müssen an der Kernreinigung des Käfigs, nie mehr Antiallergika schlucken müssen. Im Grunde genommen hätte er nicht einmal mehr die Wohnung verlassen müssen. Damit wären alle Erwartungen an den jämmerlichen Verlauf seines Lebens erfüllt gewesen.

Warum also gelang es ihm nicht, diesen aussichtslosen Traum aufzugeben, wenn er ihn nur aus der Vergangenheit einholte? Wieso konnte er nicht vergessen, woran er geglaubt hatte, bevor Leonhard Valentin all seine Wünsche mit einem einzigen Auftritt zerschlagen hatte?

Hazel gluckste leise, vermutlich hatte sie sich an einem Papierschnipsel verschluckt. Kasimir musterte ihre kleine, übergewichtige Gestalt niedergeschlagen.

»Du solltest längst nicht mehr hier sein«, wisperte er und legte seine Handfläche auf das grannige Fell seiner schweigsamen Gesprächspartnerin. »Vielleicht schmeiß ich dich im Frühling raus. Wir sollten was aus unserem Leben machen ... wenigstens einer von uns.«

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt