Als Kasimir leise die Tür zu seinem Zimmer aufschob, traf ihn beinahe der Schlag. Zentnerweise beschriebene Notenblätter lagen über die gesamte Breite seines Teppichs verteilt, einige davon schienen geknickt oder gar zerknüllt worden zu sein. Es hatte sich im Zeitraum seiner Abwesenheit ein regelrechtes Massaker in diesem sicher geglaubten Refugium ereignet und er kam nicht umhin, vor Fassungslosigkeit erstarrt im Türrahmen zu verharren.
Selbstverständlich war er Cecilies Bitte nicht vollends gefolgt. Er hatte seine Dokumente sortiert und im Wohnzimmer neben der Couch zu einem Stapel vereinigt, nicht wie gewünscht in einer seiner Schubladen weggesperrt. Diese Seiten beinhalteten seine Gedanken. Bilder in seinem Kopf, Erinnerungen, hin und wieder vielleicht sogar Zukunftsträume. Wie konnte sie erwarten, dass er den Ausdruck seiner Gefühle einfach wegschloss?
Obwohl ihn der Anblick seiner durcheinandergeratenen Werke schockierte, konnte er sein stilles Entsetzen nicht länger aufrechterhalten. Er spürte einen bestialischen Juckreiz in den Augen, die kurz darauf zu tränen begannen. Dann in der Nase. Spätestens, als er viermal nacheinander niesen musste, war ihm klar, dass all das nicht auf Cecilies Mist gewachsen sein konnte. Und ausgerechnet jetzt waren ihm die verdammten Tabletten ausgegangen.
Geistesgegenwärtig suchte er den Raum nach dem Ursprung seiner allergischen Reaktion ab. Unter dem Bettgestell konnte er sich nicht verkrochen haben. Auch das alte Regal seiner Großmutter, in welchem er verschiedenste Klavierwerke, Sonderhefte und CDs gesammelt hatte, bot keinen Platz, um einen Stummelschwanz zu verstecken. Im Grunde blieb nur ein Ort übrig, in welchem sich ein Flüchtling verbarrikadieren konnte.
Er tappte zum Kleiderschrank, ebenfalls ein Erbstück seiner Großmutter. Sie hatte ihn und Cecilie zu Lebzeiten mit Kleidungsstücken regelrecht bombardiert; es war ihr wichtig gewesen, dass es ihren Enkelkindern an nichts fehlte. Cecilies Konsole und die unzähligen Spiele, welche sie sich über Monate hinweg von ihrem kleinen Gärtnergehalt abgespart hatte, waren kostentechnisch sogar weniger ins Gewicht gefallen als Kasimirs Klavierstunden in der Kapelle. Am Ende hatte sie nie in einem Haus mit Gemüsebeet gelebt, wie es ihr Herzenswunsch gewesen war. Ich höre dir lieber zu, hatte sie ihn stets beschwichtigt, wenn er sich deswegen schlecht gefühlt hatte. Wenn du spielst, sehe ich meinen Kräutergarten vor mir und die Meisen, wie sie im Frühjahr das Vogelhäuschen plündern. Ihre Worte hatten ihn motiviert, er hatte immer besser werden wollen, immer schönere Bilder in ihrer Vorstellung erschaffen wollen mit seinen Noten. Sie hatte ihm die Szene ihrer Träume beschrieben und er hatte sie gezeichnet, mit Viertelpausen, Achtelnoten, Legato-Bögen. Letztlich war sie wohl der Quell seiner Inspiration gewesen. Seine kleine, vergessliche Oma. Vielleicht war ihr Verlust der Grund, warum er es niemals mehr zu etwas gebracht hatte.
Vor der Schranktür hielt er inne, hörte das Rascheln und rieb sich über die feuernden Augen. Was ihn irritierte, war nicht der Umstand, dass Hazel sich offenbar am Saum einer seiner ohnehin zerfetzten Jeans gütlich getan hatte. Vielmehr, dass es ihr gelungen war, ihr Werk durch die engen Gitterstäbe ihres Käfigs zu vollbringen. Der gesamte Hasenstall war im Schrank deponiert worden. Kasimir musste sich abwenden, um nicht akut an einem Niesanfall zu kollabieren. Wollte Thomas ihn umbringen?
Es klopfte und er wandte sich mit triefender Nase zur Tür. Anscheinend hatten seine allergischen Attacken ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erregt.
»Kasi? Kann ich reinkommen?«
»Gleich, warte«, erwiderte er und sah sich gestresst nach einer greifbaren Unterhose um. Er kannte seine Schwester und hatte bereits leidvolle Erfahrungen mit ihrer dehnbaren Haltung zum Begriff ›Privatsphäre‹ gemacht. »Ich bin ...«
Das Quietschen der Tür kappte seinen Einwand abrupt. Er zog sich das Handtuch enger um den Körper und musterte sie konsterniert, als sie sein Zimmer betrat.
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All Eyes On Me [1]
Romans»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...