{17} H-Dur

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Leo war sich die ganze Zeit über nicht sicher gewesen. Mit dem Namen, der Adresse. Er hatte zwei Zurückweisungen wegstecken müssen, ehe ihm endlich die richtige Stimme geantwortet hatte. Tiefer als erwartet, leiser. Dennoch hatte sie die Melodie in seinen Erinnerungen wiederbelebt, sie schlüpfen lassen wie einen Schmetterling aus dem Kokon. Es bestand kein Zweifel, wenngleich ihm bewusst war, dass er ihn wohl nicht erkannt hatte. Doch das verübelte er ihm nicht. Der Klang Leos eigener Kompositionen hallte nur Sekunden an den hohen Wänden der Konzertsäle wider. Die melodischen Fantasien dieses Jungen hingegen begannen zu leben, sobald er sie aus den Tasten kitzelte. Sie beflügelten Leo, immer weiter zu machen und nach einem Ideal zu streben, das er eigentlich niemals erreichen wollte. Nein, zu keinem Zeitpunkt hatte er sich gewünscht, jemals so gut zu werden wie er.

Als er die dritte Etage des Betontempels erklommen hatte, bemerkte er eine geöffnete Tür und eine Person, die etwas fadenscheinig im Rahmen lehnte. Als sich ihre Blicke trafen, versteifte sich die Haltung des Wartenden. Wie die eines Feldhasen, der auf weiter Flur zu spät erkannt hatte, dass ihm der Fuchs auf der Lauer war. Das las er in seinen grauen Augen, die seine Gestalt fokussierten. Unwillkürlich fühlte sich Leo, als pirschte er sich an ein unterlegenes Beutetier an. Und nicht den begabtesten Jungkomponisten, der ihm in den neunzehn Jahren seines Lebens begegnet war.

»Hey«, sagte Leo, als ihn nur noch zwei Meter von seinem einstigen Vorbild trennten. Kasimir war groß, schmal, trug sein rabenschwarzes Haar ebenso zerzaust wie damals. Das starre Augenspiel ließ nicht auf seine Gedanken schließen, seine gesamte Körperhaltung strahlte eine unnahbare Aura aus. Insofern schien er sich in den sieben, nein, zwei Jahren ihres letztmaligen Aufeinandertreffens kaum verändert zu haben. Nur seine Gesichtsfarbe erschien ihm ausgesprochen blass. Und das visionäre Funkeln war seinem Blick abhandengekommen.

»Danke, dass du mir das mit der Tür erklärt hast. Kenne mich nicht so gut aus mit automatischen Schlössern ... na ja. Was dagegen, wenn ich kurz reinkomme? Würde gern was mit dir besprechen. Wegen der Sache neulich.«

Da sich Leos Hoffnung auf eine Antwort nicht erfüllte, setzte er nach einigen schweigsamen Sekunden kurzerhand seinen Fuß auf die Türschwelle - und musste schnell reagieren, als Kasimir ebenso rasch zurück in die Wohnung wich und die Tür vor ihm ins Schloss schieben wollte. Er stoppte sie mit der flachen Hand und zog einen Brief aus seiner Manteltasche, den er sichtbar auf Kasimirs Augenhöhe hob.

»Oder willst du die Klageschrift meines Anwalts kommentarlos entgegennehmen? Geht auch, gar kein Problem.«

Sofort spürte er, wie der Gegendruck auf die Tür nachließ. Gleichzeitig löste sich in seiner Brust ein fester Knoten, so erleichtert war er. Wieder einmal zeigte sich, dass Druckmittel die effizienteste Maßnahme darstellten, ein Ziel zu erreichen.

Auch Placebos.

🎵🎵🎵

»Nette Bude«, pfiff Leo, als er sich in dem engen, leidlich möblierten Flur umsah. Ein ausgetretener Teppich auf dem Fußboden, vor der Tür ein Abtreter mit einem aufgedruckten Hasen und ein Schuhregal. »Wohnst du alleine hier?«

Die Frage konnte er sich selbst beantworten. Es war unwahrscheinlich, dass dieser hochgewachsene Kerl seine Füße in hochfeminine Pumps zwängte. Außerdem schmückten zahlreiche Fotografien, welche zwei bis drei wiederkehrende Gesichter fassten, die Raufasertapete.

Leo trat vor einen der Bilderrahmen und begutachtete die Szene, während er spürte, dass Kasimir ihn nicht aus den Augen ließ. Das war ihm nur recht. Es hatte lange genug gedauert, ihn ausfindig zu machen. Jetzt durfte er sich ihm gern ohne Umschweife widmen.

Das Bild zeigte eine betagte Dame, einen gleichgültig dreinblickenden Teenager in der Mitte und ein etwas älteres, korpulentes Mädchen, das ihm kameradschaftlich den Arm um die Schulter legte.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt