{34} All Eyes On Me, pt. 5

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Kasimir wandte sich zögerlich dem Publikum zu. Ausnahmslos alle Anwesenden klatschten in die Hände; manche emotionslos, andere lächelten. Leonhard strahlte förmlich und hielt seine Hände höher als seine Sitznachbarn, und irgendjemand aus den hinteren Rängen rief seinen Namen. War das Cecilies Stimme? Unsinn, sie war nicht hier. Wahrscheinlich bildete er sich das alles ein. Das letzte Zucken seines Geistes, der eben in die Bewusstlosigkeit abdriftete.

»Hasitzky!«, hörte er Leonhard undeutlich durch den Applaus rufen und fokussierte ihn in der Menge. Er winkte hektisch. »Aufstehen! Verbeugen!«

Ach, richtig ... das gehört sich so.

Er erhob sich und hatte das ungute Gefühl, recht wackelig auf den Beinen zu stehen. In seinem Brustkorb breitete sich eine eigenartige Leere aus, dennoch gab er sein Bestes, dem Auditorium ordnungsgemäß Dank zu zollen.

»Ein guter Start«, sagte Frau Dr. Helbig und lächelte ihm zu. »Sehr schön, vielen Dank, Kasimir. Setz dich in Ruhe.« Daraufhin wandte sie sich an die anderen Kandidaten. »Als nächstes bitte Paula Schuhmacher mit ihrem Siegerstück aus dem Jahr 2019, ›Belüge mich‹.«

Kasimir nahm beiläufig wahr, wie sich drei der Jurymitglieder angeregt Notizen machten. Wie wurden die Auftritte überhaupt bewertet? Nach Harmonie und Unterhaltungswert? Nach Technik? In seinem Inneren regte sich das bedrückende Gefühl, auf sämtlichen Ebenen eine unfassbar mittelmäßige Leistung abgeliefert zu haben.

Er tappte zurück zu den Sitzreihen, aus deren Mitte sich ein Mädchen mit dunklem Teint und langen, schwarzen Haaren hervorkämpfte. Als sie einander passierten, hörte er sie leise »gut gemacht« wispern, war jedoch zu überrascht, um etwas zu erwidern. Er blickte ihr nur verloren nach wie ein autistisches Kleinkind seiner Krabbelgruppe in der Kita.

»Hasitzky«, zischte es aus der dritten Reihe. »Komm her und setz' dich, du Träumer.«

Leonhard. Leonhard.

Sein Name tanzte durch Kasimirs Gedankenwelt wie eine Ballerina auf Speed, stolperte über sein Nervengerüst und klatschte mehrmals nacheinander gegen seine Schädelwand. Er folgte seiner Stimme und schob sich an unzähligen Kniepaaren vorbei, bis er seinen Blondschopf entdeckte und den freien Platz neben ihm. Francesca saß zu Leonhards Rechten und würdigte ihn keines Blickes, während dieser hochgewachsene Kerl von vorhin, Dawid oder wie er hieß, auf den unbesetzten Stuhl neben sich klopfte und ihm den Daumen hochhielt.

»Gar nicht mal so mies, wie ich erwartet habe, Hasi.«

Kasimir musterte ihn unschlüssig, ehe er sich Leonhard zuwandte, der seine Hand zum High-Five erhoben hielt.

»Klasse gemacht. Jetzt durchatmen und Puls senken, okay?«

»War es gut?«, fragte Kasimir und fing sich einige Blicke ein. Nachdem er sich niedergelassen hatte, wiederholte er seine Worte noch einmal im Flüsterton.

»Ja, war es«, erwiderte Leonhard. »Nicht deine beste Leistung, aber es sollte für die nächste Runde reichen. Erstmal abwarten, wie die anderen abschneiden, alles klar?«

Er deutete nach vorn auf die Bühne. Das schwarzhaarige Mädchen hatte sich am Flügel niedergelassen. Sie war mit Sicherheit jünger als Kasimir, vielleicht sogar als Leonhard, und ihr Blick wirkte ernst und hochkonzentriert.

»Das ist Paula«, wisperte Leonhard. »Sie verliert fast genauso schnell die Nerven wie du und traut sich wenig zu, ist aber technisch richtig stark, obwohl sie erst vor sechs Jahren angefangen hat zu spielen. Wir treffen uns jeden Sommer auf einem Klassikworkshop in Potsdam, daher kenne ich sie recht gut. Ihre Kompositionen sind verträumt und melodisch, ich kann sie alle auswendig.«

Es dauerte keine zehn Sekunden, ehe Kasimir verstand, wovon Leonhard schwärmte. Ihr Klavierspiel wurde von einer Zartheit getragen, die einen vollkommenen Gegensatz zu seiner Tastenmisshandlung eben bildete. Es war ein anspruchsvolles Stück, wirkte aber so eingängig, dass er sich schnell darin verlor.

Als sie zur Kadenz überging, begann der Applaus bereits vor dem letzten Takt. Wahrscheinlich, weil jeder diese Interpretation des Abschlusses vorhergesehen hatte. Innovation klang anders, nichtsdestotrotz war es gut, sehr gut sogar. Vermutlich ein besserer Auftritt als seiner, aber das kümmerte Kasimir nicht, während er Paula applaudierte. Sie verbeugte sich kurz und ziemlich verschämt, ehe sie sich eilig an ihren Platz zurückbegab. Kasimir bemerkte, wie Leonhard ihr fröhlich zuwinkte, und sie erwiderte seine Geste mit einem verschüchterten Lächeln und einem lautlos gehauchten ›Danke‹.

Der nächste Auftritt bildete erneut einen gewaltigen Kontrast zu den ersten beiden Stücken. So argwöhnisch er diesen impertinenten Kerl auch betrachten mochte, ›Broken Rainbow‹ war ein Meisterwerk. Alles wirkte perfekt, die Dynamik, das Tempo. Eine konstante Spannungssteigerung bis zur Eskalation auf dem Festgelände, Panik, Verzweiflung und die Stille danach. Dawids Spiel ließ eine Geschichte entstehen, eine Strecke aus Bildern, die schmerzten und hilflos machten. Repetitionen, die einen immer wieder zurückwarfen in das Gedränge, und ein einprägsames Motiv, das einen unter sich begrub. Kasimir hatte das Gefühl, dass alle im Raum empfanden wie er. Jeder wirkte mitgenommen, und wenn er sich nicht täuschte, hatte Francesca mit den Tränen zu kämpfen. Was für ein Auftritt, was für eine grandiose Komposition.

Allmählich spürte Kasimir ihn wieder, diesen Dorn, der sich in sein Bewusstsein bohrte und es bluten ließ. Sie waren erst beim dritten Auftritt angelangt und er erschien ihm bereits um Welten besser als der seine. Was stand ihm noch bevor? War es bereits an der Zeit, seine Teilnahme zu bereuen?

Gerade, als sich die Zweifel einen Weg in seine Gedanken bahnten, spürte er eine Berührung auf dem Handrücken und blickte überrascht zu seiner Rechten. Leonhard zwinkerte und lächelte ihn an. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde seinen Takt kurz unterbrechen.

»Keine Sorge. Du hast es hinter dir. Das kann dir keiner mehr nehmen.«

Kasimir nickte zögerlich. Er glaubte, eine deutliche Nervosität in Leonhards Blick zu erkennen.

»Ich muss noch ziemlich lange zittern. Mir ist richtig schlecht, glaubst du das?«, wisperte Leonhard lächelnd und sah wieder nach vorn, ohne seine Hand loszulassen. »Ich hoffe, das klappt alles. Hab mächtig Angst, es zu verhauen.«

Kasimir verstand nicht, warum ihn diese Worte so überraschten. Es war die normalste Reaktion, die man vor solch einem bedeutsamen Moment zeigen konnte. Er selbst wäre auf der Bühne innerlich fast gestorben vor Aufregung. Warum hatte er angenommen, dass Leonhard über dieses Gefühl erhaben war? Er durchlitt genau dieselben Ängste wie er, die gleiche Befürchtung, alles zu verlieren, was er sich aufgebaut hatte. Sie waren vielleicht gar nicht so unterschiedlich, wie er es sich eingebildet hatte. Zudem spürte er inzwischen eine derart vertraute Nähe zu ihm, dass es ihn fast verärgerte, wie er es überhaupt hatte zulassen können.

Es sollte ihn nicht kümmern, ob sein Konkurrent aufgeregt war oder nicht, und der Kontakt zu seinen schwitzigen Händen müsste ihn im Normalfall anwidern. Doch das Bedürfnis, sich aus seinem Griff zu lösen, bestand nicht, so sehr er es sich auch wünschte.

Im Gegenteil.

Er schätzte die Wärme, sogar die Feuchte seiner Handflächen, und erwiderte den Druck. Wenngleich er es nicht fertigbrachte, Leonhard in die Augen zu blicken und ihm zu sagen, dass er an ihn glaubte. Dafür war ihm viel zu heiß, und er war froh, seine Gesichtsfarbe nicht selbst sehen zu können.

Er wusste, warum es so war. Aber er hatte keine Kraft mehr, sich gegen diese Gefühle aufzulehnen. Selbst wenn er es aus tiefster Seele ablehnte, Thomas und seinen Andeutungen nachgeben zu müssen.

Er konnte es nicht länger leugnen.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt