Die bitterkalte Februarluft biss Kasimir in die Lungen. Er spürte den Verlust seiner Kondition mittlerweile schmerzhaft, als er versuchte, den abgestandenen Dunst der letzten fünf Tage aus seinem Körper zu atmen. Das hielt er immerhin seit dreißig Minuten durch, obwohl seine Beinmuskulatur bereits ab dem vierten Kilometer aufgehört hatte, mit seinem Willen zu kooperieren. So kam es, dass Cecilie ihn permanent mit Durchhalteparolen dazu anhalten musste, sich nicht einfach in den Straßengraben fallen zu lassen.
»Komm schon, du Schwächling, noch zwei Kilometer bis zur Waldschlösschenbrücke, den Weg zurück fahren wir mit dem Bus«, rief sie munter und deutete mit dem Zeigefinger auf die Elbüberquerung am letzten Ende des Horizonts.
Kasimir brachte nur ein Keuchen als Antwort zustande. Am Ende fing er sich durch den unbekümmerten Freiluftkontakt mit wildfremden Menschen die nächste Seuche ein. Cecilie würde ihn allerdings nicht mehr mit einem fadenscheinigen Hüsteln davonkommen lassen. Offenbar hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihn nach mehr oder minder erfolgreicher Genesung schnellstmöglich in Topform zu bringen, aus welchem Grund auch immer.
Ihr früheres Ich hätte sich niemals darum geschert, ob er den Nobelpreis für Musik gewann oder unbrauchbar in seinem Zimmer vergammelte. Ähnlich wie er es noch immer praktizierte, hatte sie achtundzwanzig Sommer lang in den Tag hineingelebt, Videospiele vernichtet und nur notgedrungen ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau absolviert mit dem festen Vorhaben, niemals in der Branche tätig zu werden. Das Vermächtnis ihrer Eltern und der Großmutter hatte diesen laxen Lebensalltag hergegeben. Selbstverständlich hatten ihnen zu zweit keine Unsummen zur Verfügung gestanden, allerdings hatte es nie an Essbarem gemangelt und die Wohnungsmiete hatte sich durch die Waisenrente über Jahre hinweg problemlos abstottern lassen. Dieser Zug war mit Beendigung ihrer Ausbildung und Kasimirs Volljährigkeit jedoch für beide Geschwister abgefahren, weshalb Cecilie sich von einer Chatbekanntschaft hatte überreden lassen, in der Marketing-Abteilung seines Fitnessstudios auszuhelfen. Damit hatte der Terror seinen Anfang genommen.
Zehn Minuten und einen saftigen Wadenkrampf später geriet die besagte Bushaltestelle am Flussübergang in sichtbare Nähe und Cecilie zog noch einmal im Tempo an, sodass sie das Ziel mit ihrer persönlichen Bestzeit erreichte und Kasimir mit ausschweifenden Armumkurbelungen dazu animieren wollte, ebenfalls einen Gang zuzulegen. Er empfand es angesichts der Anwesenheit schaulustiger Mittelschüler, die an der Haltestelle Erstversuche im Rauchen durchführten, als ziemliche Blamage. Seit dem Abend seines zweiundzwanzigsten Geburtstages hatte er es zunehmend satt, sich ohne Rücksicht auf Verluste vorführen zu lassen, schon gar nicht vor Jüngeren. Irgendwelchen Halbstarken. Oder einem Möchtegern-Glenn Gould.
»Miese Zeit, Brüderchen, hast du den Elan im Bett vergessen?«, fragte sie grinsend, als er japsend ihre imaginäre Ziellinie überquerte. Das darauffolgende Gelächter der Teeniegruppe ließ er zähneknirschend über sich ergehen. Besonders der Kommentar »Ob Elan ein guter Liebhaber ist?« trug nicht gerade zur Aufhellung seiner unterirdischen Laune bei.
»Halt dich zurück mit deinen Sprüchen«, zischte er und stützte seine Hände entlastend auf den Knien ab.
»Jetzt sei nicht so kindisch«, meinte Cecilie, zwinkerte der Gruppe kokett zu und küsste Kasimir dann ausgiebig lange auf die Stirn. Plötzlich war der lautstarke Hohn verflogen wie ein Kaninchenhaar im Wind.
»Seit wann machst du dir was aus der Meinung hormonell überforderter Kids? Du bist sechs Jahre reifer und mindestens einen Kopf größer, also verkriech dich nicht unter deiner dünnen Haut.«
Ja, seit wann kümmerten ihn die Missachtung oder das Lob fremder Menschen eigentlich? Seiner Geburt? Der Niederlage vor sieben Jahren, dem Tod seiner Großmutter? Oder besser, hatte es ihn jemals nicht belastet? Die Angst, dass es ihm mit seiner Kreativität, seinem Eifer und Fleiß nicht gelingen würde, kritische Geister davon zu überzeugen, dass sein Platz in der Welt gerechtfertigt war. Das war es schließlich, was ihn verfolgte, ihm anhaftete wie ein Brandmal, welches in allen Augen, die auf ihn gerichtet waren, reflektiert wurde. Er war ein Spiegelbild der Schande und des Bedauerns.
Der Sohn eines Vergewaltigers.
Kasimir schwieg, obwohl ihn diese Gedanken wie so oft im falschen Moment heimsuchten. Dabei spielte all das keine Rolle mehr. Er war da, zusammen mit Cecilie, die ihn seit jeher mit all der Liebe behandelt hatte, die sie angesichts ihrer gemeinsamen Tragödie aufbringen konnte. Als wären sie Vollgeschwister, als wäre all das nie passiert. Sie hatte stets versucht, ihm ein guter Mutterersatz zu sein, obwohl sie lediglich sechs Jahre trennten. Und er hasste seinen Erzeuger dafür, sie in diese alternativlose Rolle gezwungen zu haben.
»Hey, alle Systeme runtergefahren?«, fragte Cecilie und winkte mit ihrer flachen Hand vor seinem Gesicht herum. Er brummte missmutig, dann richtete er sich auf und legte den Kopf in den Nacken.
»Mir fehlt die Kondition ...«
»Sehe ich genauso, du schnaufst wie ein Nilpferd. Mit so einem schwachen Auftritt wirst du sie aber nicht von dir überzeugen können.«
Als er irritiert den Blick hob, grinste sie verschlagen.
»Sie?«, fragte er verwirrt.
»Jepp. Wann genau hattest du vor, mir davon zu erzählen?«
Erzählen? Wovon? Oder besser, von wem? Gerade, als er ihr die nächste Gegenfrage stellen wollte, unterbrach das dröhnende Hupen eines vorbeischippernden Flussdampfers seinen Versuch. Beinahe im selben Moment setzte ihr Linienbus auf der Hauptstraße den Blinker nach rechts. Also verzögerte sich die Auflösung Cecilies kryptischen Vorwurfs, bis sie sich auf einem Doppelsitz am Fenster niedergelassen hatten und das Gefährt tuckernd anfuhr. Jenseits der Waldschlösschenbrücke tauchte währenddessen die Silhouette des Dampfers und seiner winkenden Passagiere wieder auf. Kasimir überkam das Gefühl, dass sie besser wussten als er, was Cecilie damit gemeint haben könnte. Das verschmitzte Lächeln auf ihren Lippen wirkte jedenfalls wie festgetackert.
»Hat mich schon ein wenig gewurmt, dass du die Sache vor deiner großen Schwester geheim halten wolltest. Vertraust du mir nicht?«
»Wovon zur Hölle sprichst du?«
»Na von Elan. Oder Elaine?«, erwiderte sie und durchdrang seinen fragenden Blick mit dem wissbegierigen Funkeln ihrer Augen. »In dem Umschlag auf deinem Schreibtisch befanden sich immerhin zwei Tickets, also gehe ich davon aus, dass du nicht alleine auf dieses Galakonzert gehen willst?«
Er musterte sie verständnislos, erst dann ging ihm ein Licht auf. Welches mit einem Mal so stark zu glühen begann, dass er kurzzeitig fürchtete, der dünne Draht der Birne könnte durchfeuern.
»Du hast meine Post gelesen?«, antwortete er fahrig und musste sich sehr zurückhalten, nicht die Aufmerksamkeit der anderen Fahrgäste auf sich zu ziehen.
»Von wegen deine Post. Es standen weder Empfänger noch Absender auf dem Couvert, außerdem war es schon entsiegelt. Ich dachte, da du den Brief gleich mit auf dein Zimmer genommen hast, dass es sich womöglich um das Klageschreiben deines ominösen Weinduschers handeln könnte. Also habe ich einen Blick riskiert und zwei Karten entdeckt. Und mich natürlich gefragt, woher du das Geld nimmst, diese sündhaft teuren Sitzplätze für ein Konzert in der Semperoper zu finanzieren. Entweder du bist von jemandem eingeladen worden, der dich sehr, sehr gern hat, oder es ist genau andersherum und du hast jemanden kennengelernt, für den du dein letztes Hemd weggibst. Da Tommy und ich uns auf keine der beiden Möglichkeiten einigen konnten, dachte ich, frage ich dich im passenden Moment einfach direkt ...«
»Thomas weiß auch davon?«, entgegnete Kasimir nun verärgert und ignorierte die Blicke der heimlichen Voyeure, die ihn von allen Seiten her zu mustern schienen. »Bist du verrückt geworden? Der Kerl wird mich für den Rest meines Lebens damit aufziehen.«
»Also ist es wahr?«, unterbrach sie ihn und lehnte sich interessiert zu ihm herüber. »Läuft da was zwischen dir und Klassik-Liebhaberin Unbekannt? Es ist nicht zufällig Ella, oder?«
Er sah es. Das hungrige Blitzen in ihrem Blick, die Hoffnung, dass es endlich so weit war. Dass er sein Glück gefunden haben könnte und nach etlichen Jahren des Junggesellendaseins dem Zauber der Liebe erlegen war. Wie lange hatte sie darauf gewartet, ihn angespornt, sich unter Leute zu mischen, auf Partys zu gehen? Jemanden kennenzulernen, dem er sich anvertrauen konnte, unabhängig von ihr. Jemanden, der sein Herz berühren konnte.
Was für ein unsäglicher Schwachsinn.
Das Schimmern in ihren Augen bedeutete ihm, dass sie ihn über all die Jahre, die sie Seite an Seite verbracht, getrauert und gekämpft hatten, nicht eine Sekunde lang verstanden hatte. Er seufzte verdrießlich.
»Es ist kein Mädchen.«
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All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...