{5} C-Dur

845 90 9
                                    

Er hörte mehr, wenn die Welt um ihn herum still war. Wenn sich seine Wahrnehmung nur auf eine Melodie konzentrierte. Dann hob er ab, schwebte über allem Irdischen und drehte sich im Einklang mit der Musik um sich selbst. Es existierte nichts außer ihm und den Noten, die er umgarnte, um gemeinsam mit ihnen ein Gefühl entstehen zu lassen. Eines, das jeder spüren konnte, als würde er die Herzen der Fremden berühren, wenn die Tasten unter seinen Fingerspitzen erklangen. Er vermittelte ihnen Getragenheit, wühlte sie auf oder ließ sie schneller schlagen. In diesen Augenblicken wurde er zum Zauberkünstler, der das Publikum in seinen Bann zog. Die perfekte Illusion, das war sein Talent.

Das erwartete man von ihm.

Leos Smartphone vibrierte, als er das Foyer der Zitadelle betrat. Er schob die Kopfhörer von den Ohren und fischte das Handy aus seiner Tasche, überprüfte das Kontaktbild des Anrufers und biss sich auf die Unterlippe. Vorbeugend hielt er das Gerät auf Abstand. Den Lautsprecher brauchte er bei dieser Nummer nie zu aktivieren.

»Sciocchino!«, zeterte es vom anderen Ende der Leitung. »Wo bleibst du? Es ist fünf nach!«

»Bin schon an der Garderobe«, gab er zurück und reichte dem Rezeptionisten seinen Mantel, ehe er sich der Treppe zuwandte. »Zweites Stockwerk?«

»Dio, sì. Du solltest längst fertig sein mit dem Vorspiel, die Kandidaten schwitzen sich vor Aufregung zu Tode. Für die geht es hier um etwas, also zeig ein wenig Courage.«

Oh, das war ihm nur allzu bewusst. Er selbst war damals, bei seiner ersten Teilnahme vor fünf Jahren, beinahe an seinem rasenden Herzschlag kollabiert.

Doch dann hatte er dieses Lied gehört. Sein Lied.

Seine Melodie hatte Leos Verständnis von klassischer Musik auf den Kopf gestellt, sein zerstörerischer Rhythmus den Boden unter seinen Füßen aufgebrochen. Alle Anwesenden hatten stehend applaudiert, so perfekt war diesem Jungen die Darbietung seines selbstkomponierten Stückes gelungen. Ein Meisterwerk, so anspruchsvoll wie raffiniert, dass sich Leo beim bloßen Gedanken daran die Härchen auf den Unterarmen aufstellten. Es war die grandioseste Interpretation eines unbekannten Klavierstückes gewesen, die ihm jemals zu Ohren gekommen war.

Und plötzlich war aller Druck von ihm abgefallen.

Als dieser Fünfzehnjährige die Finger auf die Klaviatur gelegt hatte, war Leo bewusst geworden, dass er niemals auch nur annähernd solch eine Leistung auf dem Flügel würde vollbringen können. Diese fabelhaft kontrollierte Art, dem Instrument Klänge zu entlocken, hatte in den Folgejahren niemand mehr erreicht. Nicht einmal er selbst, obwohl er seine Handhaltung härter trainiert hatte als je zuvor, war in der Lage, die Darbietung einer derartig schwierigen Komposition fehlerfrei nachzuahmen.

Eines war Leo bewusst: Er hatte damals, am Valentinstag vor fünf Jahren, seinen Meister gefunden. Und am gleichen Tag wieder verloren.

Weil der Falsche als Gewinner aus diesem Wettbewerb hervorgegangen war.

»Leonhard!«, hörte er ein Mädchen am Ende des Ganges rufen, den er soeben über die letzte Treppenstufe betreten hatte. Das wunderschöne, brünett gelockte Ungetüm wartete mit verschränkten Armen vor der Tür zum kleinen Konzertsaal der Zitadelle und musterte ihn wie eine frittierte Heuschrecke im Schokofondue. »Alles wartet auf dich! Was glaubst du, wer du bist, Lang Lang?«

»Schön wär's«, antwortete er und lief etwas schneller, um ihren Zorn nicht weiter anzufeuern. »Tut mir leid, hab mich in der Uhrzeit vertan.«

»Was du nicht sagst? Vielleicht solltest du dir in Zukunft den Wecker stellen, stupido.«

Ihre Worte entlockten ihm ein Schmunzeln und ihr ein ernüchtertes Seufzen. Er kannte Francesca Vielli inzwischen lange genug, um ihre Worte mit dem Herzen zu verstehen. Als er sie erreichte, legte sie ihm ihre hervorragend manikürten Hände auf die Schultern.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt