Die Nachtluft hatte sich deutlich abgekühlt. Vielleicht ließ sich diese Empfindung aber auch auf Kasimirs rebellischen Herzschlag zurückführen. Mit jedem Wort, jedem Kompliment, das man an ihn gerichtet hatte, war sein Puls in schwindelerregendere Höhen geklettert. Dabei wusste er nicht genau, ob die andauernde Aufregung oder vielmehr seine Euphorie schuld daran waren. Und noch weniger konnte er einschätzen, aus welchem Grund ihn Francesca ohne ein Wort der Erklärung nach draußen gezerrt und hinter einen Pfeiler der Kirche gedrängt hatte. Nur, dass sie damit wohl bezweckte, unentdeckt zu bleiben. Ihre angespannte Miene ließ ihn nichts Gutes ahnen.
»Also, was willst du?«, begann er, da sie selbst offenbar nicht beabsichtigte, mit der Sprache herauszurücken. »Ich dachte, wir hätten alles besprochen. Soweit ich das einschätzen kann, läuft es wie geplant, oder nicht?«
Es war eigenartig. Kasimir hatte niemals das Gefühl gehabt, dass Francesca in Bezug auf Drohungen oder Erniedrigungen seiner Person Ladehemmungen gehabt hätte. Für ihn existierte jedenfalls kein erklärbarer Grund, weshalb sie ihn sonst unter Ausschluss der Öffentlichkeit an einen dunklen Ort zitierte.
Er griff in seine Anzugtasche und zog die halbleere Zigarettenschachtel hervor, um diesen Ausflug ins Freie wenigstens einigermaßen sinnvoll zu nutzen.
»Wenn du von mir erwartest, noch miserabler zu spielen, vergiss es. Ich werde mich nicht vor zahlendem Publikum blamieren, nur weil dir der Sinn danach steht. Leo hat einen weitaus besseren Eindruck hinterlassen. Damit solltest du dich zufrieden ...«
»Du machst alles richtig.«
Kasimir hielt im Vorhaben, sich die Zigarette zwischen die Lippen zu schieben, inne und musterte sie irritiert.
»Wo ist dann das Problem?«
»Ich schlage vor, du steckst dir zuerst dein Giftstäbchen an«, erwiderte sie. Er kam ihrem Vorschlag nach, wenngleich er sieben Anläufe brauchte, den Tabak zu entzünden. Nach diesem ganzen Theater würde er sich zuallererst ein vernünftiges Feuerzeug zulegen. Francesca blickte sich noch einmal sorgsam um, ehe sie sich ihm mit gedrosselter Stimme zuwandte.
»Wenn du dein mittelmäßiges Niveau hältst und Leo keinen Verdacht schöpft, wird er ohne Zweifel von der Jury zum Sieger gekürt.«
»Schön. Das ist genau, was du wolltest.«
»Ja. Allerdings haben sich die Umstände anders entwickelt als abgemacht. Ich habe mich gerade mit der Dame aus Berlin unterhalten. Sie ist begeistert von der Veranstaltung und sieht kein Hindernis darin, dieses Vorspiel als legitime Ersatzleistung für die übliche Bewerbungspraxis zu akzeptieren. Sie hat mir versichert, dass sie eine Immatrikulation an der Universität der Künste garantieren kann ...«
»Dann verstehe ich nicht, wieso ...«
»... für den Sieger des Wettbewerbs.«
Sie sah ihm in die Augen. Es dauerte einen Moment, ehe Kasimir die Tragweite ihrer Worte verstanden hatte. Er nahm die Kippe aus dem Mund und entließ den Rauch in den sternenübersäten Nachthimmel.
»Nur für den Sieger?«, wiederholte er und wartete ihr Nicken ab. Seine Mundwinkel zuckten kurz nach oben, bevor er sich der gewohnten Finsternis widmete, die sich langsam wieder in seinem Kopf ausbreitete. »Na ja. Wäre auch zu einfach gewesen.«
»Ist dir klar, was ich damit sagen will?«, meinte Francesca ungewohnt nachdrücklich. »Ob du sie nun mit deiner eigenen Komposition überzeugst oder nicht, es steht außer Frage, dass du im Falle einer Niederlage an der Uni angenommen wirst.«
»Ich bin nicht so schwer von Begriff, wie du vielleicht denkst«, erwiderte er und flippte seine Zigarette gegen die Kirchenwand. Die Lust zum Rauchen war ihm vergangen. »Und? Was erwartest du nun von mir?«
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All Eyes On Me [1]
Romansa»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...