{30} All Eyes On Me, pt. 1

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»Du musst deinem Vater sehr ähnlich sehen, Kasimir. Deine Mutter hatte ganz andere Gesichtszüge ...

Nein, du brauchst nicht den Kopf zu schütteln. Ihm verdanke ich, dass du auf der Welt bist ...

Das ist kein Grund, wütend zu werden, hörst du? Was zwischen ihm und deiner Mutter geschehen ist, hätte nicht passieren dürfen ...

... ja, das stimmt. Trotzdem, ich möchte nicht, dass du dich dafür verantwortlich fühlst ...

... nein, ich rede es nicht klein ...

... Unsinn, Kasimir, hör auf, solche Wörter in den Mund zu nehmen ...

Alain. Sein Name ist Alain. Er kam aus der Schweiz ...

Nein, ich weiß nicht, wo er sich aufhält.

Es wäre für euch beide gut, einander kennenzulernen. Ich hoffe, dass es dir eines Tages gelingen wird, ihn zu finden ...

... Ja, mein Junge. Aber irgendwann bin ich nicht mehr. Dann seid ihr zwei Kinder auf euch allein gestellt. Nicht morgen und nicht nächste Woche, aber vielleicht ...

... nicht doch, jetzt beruhige dich wieder ...

... was ist denn nur los?«



Kasimir öffnete die Augen und fokussierte ein verlassenes Spinnennetz an der Decke. Er lag in Jogginghosen und einem verblichenen Bandshirt auf seiner Matratze und streichelte über Hazels Rücken, während sie auf seiner Brust lustlos an einer Möhre nagte. Sie hatte in den vergangenen Wochen etwas an Gewicht verloren und fraß schlechter, man spürte bereits die Wirbelsäule unter dem grannigen Fell. Wahrscheinlich sollte er sie der Tierärztin vorstellen, wenngleich er mit diesen Besuchen keine guten Gefühle verband. Er war zwar regelmäßig zur Kontrolluntersuchung erschienen, allerdings wurde ihm immerzu flau im Magen, wenn er sich in den Warteraum setzte. Wenn er Leonhard vor zwei Jahren nicht vor der Praxis begegnet wäre, hätte sich die Chance, am heutigen Tag sein Versagen von damals reinzuwaschen, nie ergeben. Dennoch wusste er nicht, ob er glücklich über den Lauf der Dinge sein sollte oder am Ende Gefahr lief, noch tiefer zu sinken. Denn er konnte sich einfach nicht aufraffen.

Sein Blick streifte das Ziffernblatt der Wanduhr. 9:25 Uhr. In fünfunddreißig Minuten begann die feierliche Eröffnung des Jubiläumswettbewerbs in der Harmonica. Zu Fuß brauchte er etwa eine Dreiviertelstunde bis zur Zitadelle, mit der Bahn zwanzig und mit dem Auto gute zehn Minuten. Die erste Möglichkeit hatte er bereits verstreichen lassen.

Auf seinem Schreibtisch lag der Zettel, den Cecilie am Morgen für ihn hinterlassen hatte, ehe sie zur Arbeit aufgebrochen war:


Mein lieber Klavierhase,

ich drücke dir alle Daumen, die ich habe!!!

Tut mir leid, dass ich dir nicht vor Ort beistehen kann, aber ich würde dich ohnehin nur nervöser machen, also sei nicht traurig, ja? Glaub an dich! Du schaffst das, du hattest immer das Zeug zum Sieg! Hau in die Tasten, heut Abend wird angestoßen.

Alles Glück der Welt,

dein Schwesterchen :-*


Kasimir war erleichtert, dass es ihr nicht gelungen war, ihre Schicht zu tauschen. Nun konnte er ihr das Blaue vom Himmel erzählen. Dass die Konkurrenz zu hart gewesen sei oder er schlichtweg die Nerven verloren habe. Das war nicht einmal gelogen. Seit er um fünf Uhr vollkommen verschwitzt aufgewacht war, spielte sein Kreislauf verrückt. Er hatte den halben Morgen auf dem Klo zugebracht und konnte kaum Kamillentee bei sich behalten. Seine Finger zitterten unablässig, als fürchteten sich vor der Aufgabe, die er ihnen heute zumuten sollte. Aber daraus würde nichts werden.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt