Es war nur Nieselregen, doch er saß schon viel zu lange hier draußen. Die Nässe hatte sich durch sein Jackett gefressen und machte sich bereits an seinem Hemd zu schaffen. Sein zittriger Körper bedeutete ihm, dass er sich aufwärmen musste, doch er konnte nicht. Er konnte einfach nicht zurückgehen in dieses Gebäude. Er würde immerzu Gefahr laufen, ein Fenster oder einen Spiegel zu passieren und sich ins Gesicht blicken zu müssen. Allein die Vorstellung war um Welten schlimmer als das Beißen in seinen Fingern.
Kasimir hatte sich auf eine feuchte Bank im Innenhof der Zitadelle gesetzt, hielt seine Beine eng an den Körper geklammert und verbarg seine schmerzenden Augen in den Knien. Es war ein erbärmliches Gefühl, das ihn in dieser unbequemen Position gefangen hielt, ein widerwärtiger Schmerz, den er nicht abschütteln konnte.
Was hatte er sich eingebildet? Warum hatte er nicht darauf gehört, was man ihm wieder und wieder gesagt hatte? Letztlich war er nur ein Idiot, der geglaubt hatte, über jeden Ratschlag erhaben zu sein. Nun kauerte er hier wie ein Häuflein Elend, seiner Würde bis auf das letzte Molekül beraubt, und löste sich im Regen auf wie Zuckerwatte. Wenn auch leider nicht körperlich.
Dass die Tür zum Foyer irgendwann klackte, nahm er kaum wahr. Er hatte sich zurückgezogen und wollte niemanden sehen, mit niemandem sprechen. Am liebsten wäre er unsichtbar oder verborgen in der Dunkelheit, die sein Inneres zu verschlingen drohte. Doch außerhalb war und blieb es taghell.
Jemand ließ sich neben ihm nieder und saß dort einige Sekunden schweigsam. Kasimir wollte nicht wissen, wer es war. Er wollte in Ruhe gelassen werden, am besten für immer. Doch die Person harrte aus, sprach nicht, scharrte nicht aus Verlegenheit mit den Füßen im Kiesbett. So lange, bis Kasimir kurz den Kopf hob und gleich wieder auf seine Knie sinken ließ. Nun wusste er immerhin, was ihn erwartete. ›Ich hab's dir doch gesagt‹ und ›Hättest du mal auf jemand Erfahrenen gehört‹. Aber diese Befürchtung trat nicht ein. Stattdessen lehnte sich Dawid zurück und streckte gähnend die Beine aus, nachdem er Kasimirs Reaktion bemerkt hatte.
»Der erste Kerl, in den ich verschossen war, war ein Koreaner aus der Parallelklasse«, begann er. »Lim Soo-Ri. Total schmächtig, nichts dran an dem Jungen. Er konnte nicht mal besonders gut deutsch, war erst im vierten Jahr an unsere Schule gewechselt. Aber was er beherrscht hat, war das Cello. Er konnte spielen wie ein Verrückter. Als ich ihn zum ersten Mal auf dem Schulfest habe auftreten sehen, dachte ich noch, er würde schauspielern und das liefe alles playback. Aber so war's nicht. Er hat sich an dem Tag in mein Herz gespielt. Wie alt war ich, zehn, elf? Jedenfalls viel zu jung um zu begreifen, was mit mir los war. In 'ner Großstadt mag das anders sein, aber auf dem Dorf bist du nicht mal eben schwul. Die einzige ›Schwuchtel‹ an unserer Schule wurde massakriert, bis er seinen Abschluss gemacht hat. Für mich wäre es der Supergau gewesen, zwischen allen ›normalen‹ Kids aufzufliegen, also hab ich mich angepasst, dumme Witze gerissen und mir kurzzeitig sogar 'ne Freundin angelacht. Trotzdem war tief in mir die ganze Zeit über die Hoffnung, dass ich Soo-Ri näherkommen würde. Später, nach der Schule. Ich wollte herausfinden, wo er studieren will. Welches Fach. Ich recherchierte mich damals dumm und dämlich, suchte Artikel aus der Lokalzeitung über seine Celloauftritte und schnitt mir Bilder von ihm aus, legte sie in mein Heft und sah sie mir im Unterricht an. Irgendwann wusste ich so gut wie alles über ihn, seine Familie und seine Zukunftspläne, ohne auch nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen zu haben. Und dann, in der zehnten Klasse, am achtzehnten November, lief er plötzlich Hand in Hand mit einem Mädchen durch den Gang. Vorbei an mir und meinen Jungs. Ein Mädchen, kannst du dir das vorstellen? Im ersten Moment hab ich das überhaupt nicht begriffen, dachte, es wäre irgendeine Cousine oder so. Erst in der letzten Schulstunde brach es dann aus mir raus. Ich hab mitten im Unterricht angefangen zu heulen. Einfach so, es ging, glaube ich, gerade um Kernkraftwerke. Ich hatte sechs Jahre lang von einem Typen geträumt, den ich niemals, aber auch niemals würde erreichen können. Und dann ging alles ziemlich fix. Jemand fand die Bilder, die Gemeinschaft zog ihre Schlüsse und ich war bis zum Abi die neue Dorfschwuchtel. Lim Soo-Ri hat das mitbekommen, aber er hat sich nicht darum gekümmert. Warum auch, wir kannten uns nicht. Nach dem Abschluss war er einfach weg und ich hab nie wieder was von ihm gehört. Schöne Scheiße, was?«
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All Eyes On Me [1]
Romantik»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...