{64} Summertime, pt. 1

462 65 4
                                    

Leo schloss die Augen. Wie Flügelschläge hallte die Verbindung seiner Finger mit den Tasten an den hohen Wänden der Frauenkirche wider. Losgelöst von allen Konventionen flatterten die Töne durch den Konzertsaal; verspielt majestätisch, elegant verträumt. Ein farbiger Bach aus Noten ergoss sich über den Altar und plätscherte heiter die Stufen hinab, bis er den polierten Sandsteinboden erreichte und ihn geschmeidig werden ließ. Dieses Stück wirkte viel zu unbekümmert für das barocke Gemäuer mit seiner ehrwürdigen Kuppel. Selbst der Flügel, ein gehobenes Modell der Marke Steinway and Sons, verblasste im Glanz der meterhohen silbernen Orgelpfeifen. Leo wusste, dass er diesem schillernden, geschichtsträchtigen Ort mit seinem Spiel nicht näherungsweise den Respekt entgegenbringen konnte, den er verdiente. Dennoch konnte er einfach nicht ablassen von der Klaviatur. Er wollte die weiß-goldene Kulisse in seiner bunten Interpretation von ›Summertime‹ erstrahlen lassen. Am heutigen Tag aus reiner Freude an der Musik – und morgen, um eine alte Rechnung zu begleichen.

»Sehr gut«, sagte Francesca aus einer der hinteren Bankreihen, als Leo den Schlussakkord spielte. Während des Stückes war sie einmal durch den kompletten Publikumsbereich gelaufen und hatte sich einen Eindruck vom Klang verschafft, um sich gegebenenfalls bei der Konzertorganisation zu beschweren, wenn er sich nicht entsprechend ihrer Vorstellungen entfaltete. »Gleich noch mal.«

»Ach, komm, Franna. Fünf Durchgänge reichen doch ...«

»Wir haben nur zwei Stunden, ehe Kasimir mit seiner Generalprobe dran ist. Bis dahin muss dein Programm sitzen. Bach nehmen wir auch noch mal durch. Und ›Il solitario‹, das ich dank deiner Sturheit bis heute nicht ein einziges Mal gehört habe.«

»Ich sagte, dass ich dich damit überraschen will.«

»Und ich sage, ich brauche morgen kein böses Erwachen. Du wirst es mir vorspielen, basta. Keine Experimente, klar?«

»Mach dir keine Sorgen. Ich kann es. Wirklich.«

»Du warst schon immer ein Schwindler, Leo«, konterte sie abgeschmackt. »Ich lasse mich nicht für dumm verkaufen, dafür ist die Lage zu ernst. Hast du dir Kasimirs Programmliste angesehen, die ich dir geschickt habe?«

»Ja.«

»Dir ist klar, dass er den ersten Satz von Beethovens ›Pathétique‹ spielt? Und ›La Campanella‹?«

Leo verdrehte die Augen. Wenn er wüsste, welche Verbrechen sie begangen hatte, um an Kasimirs Liedauswahl zu kommen, wäre er schon dreimal zur Polizei gelaufen.

»Ja. Und?«

Eigentlich brauchte sie darauf nicht zu antworten, Leo konnte alles an ihrem Blick ablesen. Ihre Abneigung bezüglich Kasimirs »Arroganz«, derart ausdrucksstarke Stücke vorzutragen, und die Sorge, dass er Leo mit seinem Können die Show stahl. Als er mit den Schultern zuckte, verzog Franna die Lippen.

»Keine Ahnung, was sich dieser Vogel dabei denkt. Ich dachte, ihr hättet euch vertragen, aber diese Kompositionen sind eine eindeutige Kampfansage.«

Nun musste Leo schmunzeln. Es gab nichts, was er an diesem Umstand als bedauernswürdig empfand. Genau darauf hatte er all die Wochen hingearbeitet. Eine Revanche für seinen erschlichenen Ruhm vor sieben Jahren, ein Duell auf Augenhöhe. Kasimirs Auswahl bestätigte Leos Hoffnung, dass sein Konkurrent genauso erpicht darauf war wie er selbst.

»Es ist immer noch ein Wettstreit, auch wenn wir miteinander im Reinen sind.«

Das versuchte er sich jedenfalls einzureden. Im vergangenen Monat hatte sich ihr Kontakt auf ein paar kümmerliche Textnachrichten beschränkt, deren Anzahl man an einer Hand ablesen konnte. Zudem waren es nicht zwingend freundschaftliche Botschaften gewesen, vielmehr ein Informationsaustausch zu den Formalien des Auftritts. Dennoch hatte sich Leo über jede Nachricht gefreut. Nun konnte er es kaum noch erwarten, Kasimir am nächsten Tag endlich wieder in Person gegenüberzustehen.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt