Leo betrachtete die Decke des Wohnzimmers durch seine Finger. Sie lebten erst seit sechs Jahren in diesem Haus, trotzdem zog sich bereits ein dünner Riss durch die Wandverkleidung. Vielleicht hatte er mit seinem Klavierspiel dazu beigetragen. In der alten Wohnung hatten sich die Nachbarn jedenfalls ständig darüber beschwert, was für einen Lärm er verbreiten würde, und ob man sich als Teenager nicht normalen Hobbys widmen könnte. Mit Freunden rausgehen zum Beispiel.
Dafür hätte es allerdings Freunde gebraucht.
»Leo, denkst du daran, dass Frau Ehring um 14 Uhr kommt? Wegen deiner verpassten Stunden letzte Woche.«
»Ja ...«, gab er zurück in der Hoffnung, dass seine Mutter nichts Wichtiges gesagt hatte. Seine Kopfhörerschalen schirmten ihn sogar von Außengeräuschen ab, wenn keine Musik durch sie hindurchströmte. Im Augenblick hatte er keine Lust, seinen Gehörgang mit neuen Songs zu schwemmen. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben. Wirklich vergönnt war das großen Brüdern an sonnigen Samstagen aber wahrscheinlich nie.
»Leo, wir gehen raus!«, rief Mira übertrieben laut. Er antwortete nicht, und das nächste, was er sah, war ihr Gesicht über seinem; rote Wangen und ein auffordernder Blick. Dann wurden ihm gewaltsam die Kopfhörer von den Ohren gerissen.
»Au, Mann, Mira, was soll das denn jetzt ...«
»Ich will Fußball spielen«, sagte sie und tätschelte grobmotorisch seine Stirn. »Papa hat mir gestern gezeigt, wie man eine Blutgrätsche macht. Ich will das an dir ausprobieren.«
»Keine Lust.«
»Wieso nicht?«
»Das muss man nicht begründen.«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Schmollen, während sie ihn unnachgiebig anstarrte.
»Bist du immer noch sauer, dass du rausgeflogen bist?«
»Nein.«
»Ist doch auch nicht schlimm. Jetzt können wir alle zusammen Franna anfeuern.«
Er seufzte und richtete sich an der Couchlehne auf. Mira legte den Kopf seitlich.
»Oder bist du für Kasimir? Oder für Paula? Aber nicht für Dawid, oder? Den mag ich nicht.«
»Ich bin für alle und gar keinen«, erwiderte er seufzend. »Ist mir völlig egal.«
»Ist es gar nicht ... Warte, ich rate! Paula, oder? Ihr habt doch gestern so lange telefoniert! Magst du Paula?«
»Sie hatte Fragen zu Dawids Lied. Es ist ziemlich schwer zu spielen. Ich habe ihr nur ein paar Tipps gegeben, mehr nicht.«
»Aber sie mag dich.«
»Ja, Mira. Weil wir Freunde sind. Da redet man unter Umständen schon mal miteinander.«
»Mit Kasimir redest du aber nicht mehr. Ihr seid doch auch Freunde, oder?«
Ja. Nein.
Er wusste es nicht. Innerhalb weniger Sekunden war derart viel zwischen ihnen zerbrochen, dass er sich nicht mehr zu behaupten traute, ob sie je wieder ein normales Wort miteinander würden wechseln können.
Seit vergangenem Samstagabend hatte er mehrmals täglich versucht, Kasimir zu erreichen, war aber entweder ignoriert oder aktiv weggedrückt worden. Auf seine Sprachnachrichten folgte keine Antwort, nicht einmal im schriftlichen Chat erhielt er eine Lesebestätigung. Leo konnte nicht einschätzen, was in Kasimirs Kopf vorging und ob er überhaupt die Kraft hatte, sich auf den morgigen Auftritt vorzubereiten. Franna ließ jedenfalls keine freie Minute verstreichen, ohne ›All Eyes On Me‹ zu perfektionieren, und er hatte bereits bei ihrer gestrigen Probe keinen Fehler mehr gehört. Kasimir hingegen musste sich mit seiner Trauma-Komposition schlechthin alleine herumschlagen. Eine schlimmere Halbfinalpartie hätte sich Leo im Vorfeld nicht ausmalen können.
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All Eyes On Me [1]
Romance»Vollkommen egal, wie viele Menschen dir jetzt zusehen. Spiel so, dass ich die Augen nicht von dir lassen kann.« Die Liebe zur Musik bestimmt Kasimirs Leben, nirgends entfaltet er seine Gefühle so frei wie am Klavier. Bis sein Traum, als Pianist mit...